Wo sollen Früh- und Risikogeborene in Deutschland entbunden werden?
Je früher vor dem regulären Geburtstermin ein Frühgeborenes geboren wird, desto wahrscheinlicher ist die Notwendigkeit einer umfangreichen medizinischen Versorgung. Auch sogenannte Risikogeborene, also aus anderen Gründen besonders gefährdete Neugeborene, benötigen häufig spezialisierte pädiatrische (Intensiv-)Betreuung. Früh- und Reifgeborene sollen daher abhängig vom Schwangerschaftsalter und den Risiken in spezialisierten Zentren, sogenannten Perinatalzentren Level 1 (Versorgungsstufe 1), Perinatalzentren Level 2 (Versorgungsstufe 2) oder perinatalen Schwerpunkten (Versorgungsstufe 3) zur Welt kommen, so sehen es die Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses vor. In diesen Kliniken muss rund um die Uhr eine Pädiaterin bzw. ein Pädiater anwesend oder in kürzester Zeit verfügbar sein. Lediglich ab einem Schwangerschaftsalter von 36+0 Wochen und ohne zu erwartende Komplikationen dürfen Neugeborene in einer „reinen“ Geburtsklinik (Versorgungsstufe 4) entbunden werden. In Krankenhäusern, in denen eine Pädiaterin bzw. ein Pädiater nicht unmittelbar vor Ort zur Verfügung steht, müssen Vorkehrungen getroffen werden, dass diese kurzfristig gerufen werden können [1].
Wie ist die Versorgungsrealität von Früh- und Risikogeburten?
Der Qualitätsindikator [2] „Anwesenheit eines Pädiaters bei Frühgeburten“ untersucht, ob bei jeder Geburt eines Frühgeborenen im Krankenhaus tatsächlich eine Pädiaterin bzw. ein Pädiater anwesend war. Der Referenzbereich beträgt ≥90 Prozent. Das durchschnittliche Bundesergebnis dieses Indikators liegt seit Jahren bei circa 97 Prozent. Dies bedeutet, dass bei einem nahezu unveränderten Anteil von etwa 3 Prozent dieser Geburten – dies sind in den letzten Jahren rund 650 (EJ 2021) bis 810 (EJ 2019) Frühgeborene – keine Pädiaterin bzw. kein Pädiater anwesend war. Allerdings ist aus dem Bundesqualitätsbericht des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) auch ersichtlich, dass sich diese Geburten in einer vergleichsweise kleinen Anzahl an Krankenhäusern häufen, die in diesem Indikator statistisch signifikant vom Referenzbereich abweichen – und zwar zum Teil weit über 10 Prozent (EJ 2019: 17,92 %; EJ 2020: 13,74 %; EJ 2021: 14,56 %)[3]. Auch wenn es sich dabei teilweise um unvermeidliche einzelne Notfälle handelt, weist der Qualitätsindikator auf Qualitätsdefizite in einzelnen Krankenhäusern hin und macht Handlungsbedarf deutlich, der durch die bisherigen Instrumente der Qualitätssicherung noch nicht behoben werden konnte.
Auch das Ergebnis einer anderer Qualitätskennzahl zur „Geburt in der adäquaten Versorgungsstufe“ (Originale Kennzahlbezeichnung: „Kinder, die in einer Geburtsklinik geboren wurden, aber in einer höheren Versorgungsstufe hätten geboren werden müssen“) zeigt hier den Handlungsbedarf: Zu viele Früh- und Risikogeborene werden in Geburtskliniken (Versorgungsstufe 4) geboren, obwohl sie in einer höheren Versorgungsstufe entbunden werden sollten. In der erstmaligen Auswertung dieser Kennzahl im Erfassungsjahr 2021 ist ersichtlich, dass 22.310 von 255.027 Fälle (8,75 Prozent aller erfassten Früh- und Risikogeborenen) in einer zu niedrigen Versorgungsstufe geboren wurden.
Warum werden Früh- und Risikogeburten nicht in einer spezialisierten Klinik entbunden?
Das IQTIG hat in einer Sonderanalyse für den Gemeinsamen Bundesausschuss auf das Problem der Fehlsteuerung von Frühgeborenen und Risikogeburten aufmerksam gemacht und analysiert, warum so viele Krankenhäuser im Qualitätsindikator „Anwesenheit eines Pädiaters bei Frühgeburten“ auffällig werden [5]. Aus den Bewertungen der Ergebnisse wird ersichtlich, dass es sich insbesondere um die einfachen Geburtskliniken (Versorgungsstufe 4) handelt: Es gibt immer auch seltene Einzelfälle, in denen Früh- oder Risikogeburten in einer nicht-spezialisierten Klinik entbunden werden, ohne dass dies als Qualitätsdefizit im betreffenden Krankenhaus anzusehen ist: Wenn beispielsweise eine Schwangere notfallmäßig in einer Geburtsklinik Versorgungsstufe 4 aufgenommen wird und aus medizinischen Gründen keine Weiterverlegung erfolgen kann, da dies Mutter und Kind mehr gefährden würde als die Geburt in einer eigentlich nicht dafür vorgesehenen Klinik. Dennoch ist auch in diesem Notfall durch das Krankenhaus sicherzustellen, dass eine bestmögliche Versorgung dieser besonders vulnerablen Neugeborenen erfolgt. Hier wurden in der Sonderanalyse erhebliche Qualitätsdefizite festgestellt. Insbesondere eine späte Diagnosestellung bei Notfällen, die verzögerte Information des pädiatrischen Dienstes und lange Wegezeiten über 30 Minuten des pädiatrischen Dienstes wurden im Fall einer ungeplanten Frühgeburt in einer Geburtsklinik als Gründe für das Qualitätsdefizit identifiziert [5].
Was kann getan werden, um die Geburt eines Kindes in einem geeigneten Krankenhaus zu gewährleisten?
In der Sonderanalyse des IQTIG wurden ausgehend von den Gründen für die Mängel in der Versorgung gemeinsam mit Expertinnen und Experten Handlungsfelder identifiziert, die zu einer Verbesserung der Versorgungssituation beitragen könnten, aber außerhalb der direkten Möglichkeiten für Qualitätsverbesserungsmaßnahmen des Gemeinsamen Bundesausschusses liegen. Ein entscheidender Punkt wäre die Verbesserung der Prozesse vor der stationären Aufnahme. Durch Optimierung der Abläufe vor Aufnahme könnte die Aufnahme der Schwangeren in die geeignete Versorgungsstufe besser gesteuert werden. Hierfür wurden vor allem zwei Ansätze identifiziert:
- eine verbesserte Aufklärung und Information der Schwangeren sowie
- klare Vorgaben und Informationen für die Steuerung durch das Rettungsleitsystem.
Jede Schwangere – auch ohne Risikofaktoren – sollte unabhängig vom Wunschort für die Entbindung auch über spezialisierte Zentren in ihrer Nähe Bescheid wissen, damit diese in einem Notfall gezielt aufgesucht werden können. Diese Informationen kann die Schwangere erreichen über:
- die niedergelassene Frauenärztin bzw. den niedergelassenen Frauenarzt
- die niedergelassene Hebamme (z. B. im Geburtsvorbereitungskurs)
- den Mutterpass (aktuell sind hier noch keine solchen Informationen verortet)
- die Krankenkassen (z. B. in Form von Informationsschreiben)
- Schwangerschafts-Beratungsstellen
- Apps für Schwangere
- Homepages (z. B. der Krankenhäuser oder für Perinatalzentren (Versorgungsstufe 1 und 2) über www.perinatalzentren.org)
- Zeitschriften für Schwangere
- Informationsmaterial für Schwangere (z. B. von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
Ein weiterer Baustein bei der besseren Versorgung von Früh- und Risikoschwangeren besteht in der Information und Schulung des Rettungsdiensts. Die Zuweisung einer Schwangeren sollte durch das Rettungsleitsystem (z. B. mit Hilfe von „IVENA“, einem System, mit dem die präklinische und klinische Patientenversorgung verzahnt wird) in eine adäquate Klinik gewährleistet werden. Der Rettungsdienst liegt allerdings in der Verantwortung der Bundesländer, die hier aktiv werden müssten. Insofern erscheint es notwendig, auf die Bundesländer zuzugehen, um eine Verbesserung der Versorgung zu erreichen.
Zusammenfassung
Der Qualitätsindikator „Anwesenheit eines Pädiaters bei Frühgeburten“ zeigt, wie wichtig bundeseinheitliche Qualitätsvorgaben und deren Messung sind: Seit Jahren können relevante Qualitätsdefizite bei der Versorgung von Frühgeburten in einzelnen Krankenhäusern aufgezeigt werden. Darunter sind auch Krankenhäuser, die aufgrund ihrer geografischen Lage die personellen, fachärztlichen Anforderungen für diese Notfälle nicht erfüllen können. Es gilt daher, die Versorgung der Schwangeren in diesen Notfällen besser zu steuern. Eine tiefgehende Sonderanalyse des IQTIG liefert einen wichtigen Beitrag, mithilfe von Daten und Erkenntnissen aus der externen Qualitätssicherung konkrete Verbesserungsmöglichkeiten in der Versorgung zu erkennen und auf den Weg zu bringen. Die Erkenntnisse zeigen aber auch, dass der für die Qualitätsmessung und –sicherung zuständige Gemeinsame Bundesausschuss dort an seine Grenzen für Qualitätsverbesserungen stößt, wo eine Lösung, wie zum Beispiel beim Rettungsdienst, nur durch Aktivitäten der einzelnen Bundesländer zu erreichen ist. Auf Basis dieser wichtigen Erkenntnisse zur Verbesserung der Versorgung von Früh- und Risikogeburten ist es nun wichtig, initiativ zur werden. Es gilt, Wege für eine verbesserte Aufklärung und Information der Schwangeren zu finden und sich an die Bundesländer zu wenden, damit die Rettungsleitsysteme durch verbesserte Steuerung dazu beitragen, dass diese vulnerablen Neugeboren in einer spezialisierten Klinik zur Welt kommen und nicht im nächstgelegenen Krankenhaus ohne entsprechende Personalausstattung.
Der Artikel ist mit Unterstützung des Kompetenz-Zentrums Qualitätssicherung KCQ des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg entstanden (pfo).