Serie: Qualitätssicherung für bessere Versorgung

Mindestmengen sichern Überlebenschancen von sehr kleinen Frühgeborenen

Juli 2021

Eine besonders komplizierte Arbeit führt derjenige am besten aus, der das Erlernte häufig ausführt. Diese schlichte Erkenntnis liegt dem Qualitätsinstrument der sogenannten Mindestmengen zugrunde, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) festlegt. Mit der Regelung, komplizierte Operationen nur in Kliniken mit ausreichender Erfahrung durchführen zu lassen, werden Patientinnen und Patienten vor dem Risiko schlechter Behandlungsqualität wegen Unerfahrenheit geschützt.

Bei diversen komplizierten Behandlungen, Eingriffen oder Operationen ist wissenschaftlich belegt, dass die Anzahl der von einer Ärztin oder einem Arzt bzw. einem Krankenhaus durchgeführten Eingriffe mit der erzielten Qualität zusammenhängt. Das trifft auch für die Versorgung von untergewichtigen Frühgeborenen zu (1-5). In vorangegangenen Artikeln der Serie „Qualitätssicherung für bessere Versorgung“ wurde bereits das grundlegende Prinzip von verpflichtenden Mindestmengen für Krankenhäuser am Beispiel der Mindestmengenregelung für Lebertransplantationen vorgestellt. Insbesondere bei hochkomplizierten Leistungen (das kann die anspruchsvolle Zusammenarbeit eines interdisziplinären Teams sein, wie etwa bei der Versorgung von Frühgeborenen, oder es kann die besondere technisch-manuelle Herausforderung einer Operation sein, wie bei Eingriffen an der Bauchspeicheldrüse) gibt es viele Belege und Hinweise aus der Fachliteratur für einen Zusammenhang zwischen Menge und Ergebnis (6): Wer diese Eingriffe häufig erbringt, führt sie auch sicherer aus.

Warum eine Mindestmenge für Frühgeborene?

Kinder, die vor dem errechneten Geburtstermin („zu früh“) geboren werden, nennt man „Frühgeborene“. Da die volle Zeit im Mutterleib für das Wachstum des Kindes entscheidend ist, sind Frühgeborene durch ein niedrigeres Gewicht bei der Geburt gekennzeichnet. Fachleute verwenden die Gewichtsgrenze von 1250 Gramm, um die kleinste Frühgeborenen mit extrem niedriger Reife zu beschreiben. In Deutschland wurden im Jahr 2018 insgesamt 6.541 Frühgeborene, die mit einem Gewicht von weniger als 1.250 Gramm zur Welt kamen, im Krankenhaus versorgt. Dem steht eine Gesamtzahl von 787.523 Geburten im Jahr 2018 in Deutschland gegenüber.

Eine Schwangerschaft dauert normalerweise etwa neun Monate. Diese Zeit braucht das Kind, um sich im Mutterleib zu entwickeln. Kommt das Kind zu früh zur Welt, besteht die Gefahr, dass lebenswichtige Organe bei der Geburt nicht vollständig ausgereift und somit die Lebensfunktionen des Kindes eingeschränkt sind. Falls das Kind überlebt, drohen bleibende Behinderungen.

Die besondere Herausforderung und Komplexität in der Versorgung ergeben sich also aus der hohen Sterblichkeit dieser Kinder bzw. aus dem besonders hohen Risiko für frühkindliche Behinderungen. Das Ziel der gemeinsamen pflegerischen und ärztlichen Betreuung ist zunächst, die Frühgeburt hinauszuzögern und dem Fötus noch eine möglichst lange Reifungszeit im Mutterleib zu ermöglichen. Es ist also wichtig, die drohende Frühgeburt rechtzeitig zu erkennen und dann zu verhindern. In dieser Phase sind vor allem Gynäkologinnen und Gynäkologen sowie Hebammen bzw. Entbindungspfleger in die Betreuung involviert. Lässt sich die Geburt nicht weiter hinauszögern, so übernehmen ab der Entbindung vorrangig Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie speziell qualifiziertes Pflegepersonal die weitere Versorgung.

Ein Frühchen im Inkubator

Für das Überleben nach der Geburt ist die abgeschlossene Reifung der Lunge besonders wichtig, die bei Frühgeborenen oft nur unzureichend vorliegt. Bei der Versorgung des Frühgeborenen unmittelbar nach der Geburt geht es darum, eine möglichst reibungslose Umstellung der Kreislaufverhältnisse und der Atmung zu etablieren.

Damit auch bei normaler Atmung der Gasaustausch in den Lungenbläschen (Alveolen) überhaupt erfolgen kann, ohne dass diese kollabieren, muss die Oberflächenspannung, welche an einer Luft-Wasser-Grenze normalerweise besteht, reduziert werden. Dazu bildet der Körper in den Lungenzellen eine Mischung verschiedener Proteine und Lipide, welche sich im Oberflächenfilm der Alveolen anreichern. Diese Substanz verringert die Oberflächenspannung auf ca. ein Zehntel; die Substanz wird „Surfactant“ (nach surface, Oberfläche) genannt. Auch für die erste Entfaltung der Lunge nach der Entbindung – und damit auch für die Kreislaufumstellung – ist ausreichend vorhandener Surfactant eine zwingende Voraussetzung. Eines der Hauptprobleme der Frühgeburtlichkeit ist also zunächst die unzureichende „Lungenreife“ bzw. der fehlende Surfactant.

Es kommt nach der Geburt zum sogenannten Atemnotsyndrom: Ohne sachgerechte Behandlung würden die Kinder ersticken. Um dieses Szenario zu vermeiden, benötigt das medizinische Personal besondere Erfahrung sowohl bei der Behandlung der Schwangeren vor der Entbindung als auch bei der Versorgung des Kindes nach der Geburt. Zum einen kann vor der Geburt versucht werden, die Lungenreife medikamentös vorzeitig zu stimulieren. Zum anderen muss das Frühgeborene, wenn es ohne ausreichend Surfactant geboren werden, sofort künstlich beatmet werden oder besser noch bei erhaltener Spontanatmung mit Surfactant versorgt werden.

Darüber hinaus können nach der Geburt auch weitere typische Komplikationen wie Infektionen, das Absterben von Darm-Abschnitten (nekrotisierende Enterokolitis) und eine Verschlechterung der Beatmung oder Instabilität nach Beendigung der Beatmung auftreten. Deren zielgerichtete, geübte und schonende Behandlung muss sichergestellt werden.

In der Phase der nachgeburtlichen Versorgung werden die kritischen Voraussetzungen geschaffen, die die Entwicklung der genannten Komplikationen potenziell begünstigen oder eben auch verhindern können. Solche Komplikationen sind bei besonders kleinen Frühgeborenen sehr viel häufiger als bei reifgeborenen Kindern - und haben schwerwiegendere Auswirkungen.

Anhand zweier Beispiele wird im Folgenden verdeutlicht, weshalb die Versorgung dieser kleinen Patienten und Patientinnen durch Mindestmengen geregelt werden sollte:

  • Der kritische und genaue Umgang mit Sauerstoff ist eine Voraussetzung dafür, dass eine Frühgeborenen-Retinopathie – eine Augenerkrankung – verhindert werden kann. Diese wird zwar wesentlich später erst therapiepflichtig, jedoch entsteht diese fast immer in den ersten Lebenswochen.
  • Des Weiteren besteht die Gefahr von Septikämien (Blutvergiftungen) bei Frühgeborenen, die innerhalb weniger Stunden tödlich verlaufen können. Erfahrenen Teams ist es möglich, frühzeitig minimale klinische Anzeichen zu erkennen und somit die Überlebenschance des Kindes zu erhöhen.

Aus diesen Gründen hat der G-BA entschieden, dass schwangere Frauen bei drohender Frühgeburt ausschließlich an solchen Standorten entbinden dürfen, an denen pro Jahr eine Mindestzahl an Frühgeborenen versorgt wird. Dabei soll sichergestellt werden, dass das behandelnde Team über ausreichend Erfahrung bei der Versorgung des frühgeborenen Kindes verfügt und somit die Chance für ein gesundes Leben des Kindes steigen.

Auf der Internetseite www.perinatalzentren.org veröffentlicht der für die Qualitätssicherung verantwortliche G-BA zentrale Ergebnisse der Krankenhäuser bzw. Perinatalzentren (vgl. Abbildung).

Screenshot der Internetseite perinatalzentren.org mit der Ergebnisliste für die beispielhafte Standortsuche in Frankfurt am Main

Ausschnitt der Internetseite des G-BA www.perinatalzetren.org mit zentralen Qualitätsergebnissen

Im Jahr 2018 wurden an über 300 Krankenhäusern in Deutschland Frühgeborene unter 1.250 Gramm versorgt, obwohl nur 155 Standorte die bereits 2018 geltende Mindestmenge von 14 erfüllten. Allerdings reicht auch die geforderte Mindestmenge von 14 Fällen nicht aus, um ähnlich gute Überlebenschancen wie in anderen europäischen Ländern sicherzustellen. Daher hob der G-BA am 1. Januar 2021 die Mindestmenge auf 25 Fälle pro Jahr an (7).

Überprüft wird die Einhaltung der Mindestmenge übrigens jährlich von den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen. Diese bestätigen die Leistungsberechtigung zur weiteren Versorgung von Frühgeborenen im Folgejahr. Nur dann sind die Krankenhäuser berichtigt, diese Behandlungen durchzuführen.

Mindestmengen sorgen für Transparenz

In den Qualitätsberichten der Krankenhäuser, die von allen Krankenkassen und auch anderen Institutionen im Internet veröffentlicht werden, kann für jedes Krankenhaus nachgesehen werden, wie hoch die Fallzahlen sind, ob die Mindestmengen erreicht werden und eine Leistungsberechtigung besteht. So können sich Patientinnen, aber auch die Krankenhausplanungsbehörden informieren, welche Krankenhäuser in der Versorgung von sehr kleinen Frühgeborenen erfahren sind und die Mindestmenge einhalten.

Literatur

1. Esser M, Lack N, Riedel C, Mansmann U, von Kries R. Relevance of hospital characteristics as performance indicators for treatment of very-low-birth-weight neonates. Eur J Public Health 2014;24:739-744.

2. Kutschmann M BS, Kotting J, Trumner A, Fusch C, Veit C. . Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1 250 g: risikoadjustierte Qualitätsvergleiche zur Validierung eines fallzahlbasierten Steuerungsmodells. Deutsches Ärzteblatt 2012;109:519-526.

3. Jensen EA, Lorch SA. Effects of a Birth Hospital's Neonatal Intensive Care Unit Level and Annual Volume of Very Low-Birth-Weight Infant Deliveries on Morbidity and Mortality. JAMA Pediatr 2015;169:e151906.

4. Miedaner F, Langhammer K, Enke C, Gopel W, Kribs A, Nitzsche A, Riedel R, et al. Volume, size, professionals' specialization and nutrition management of NICUs and their association with treatment quality in VLBW infants. J Perinatol 2018;38:402-410.

5. Watson SI, Arulampalam W, Petrou S, Marlow N, Morgan AS, Draper ES, Santhakumaran S, et al. The effects of designation and volume of neonatal care on mortality and morbidity outcomes of very preterm infants in England: retrospective population-based cohort study. BMJ Open 2014;4:e004856.

6. Nimptsch U, Mansky T. Hospital volume and mortality for 25 types of inpatient treatment in German hospitals: observational study using complete national data from 2009 to 2014. BMJ Open 2017;7:e016184.

7. R. R. Qualität perinatologischer Versorgung im internationalen Vergleich und die konfliktträchtige Einführung der Mindestmengenregelung in der Neonatologie in Deutschland. Pädiatrie & Pädologie 2015;50:59-65.

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