Bewertung der vom G-BA erlassenen Erprobungsrichtlinie
Da der Gesetzgeber mit den Änderungen im TSVG dem G-BA untersagte, eine Prüfung vorzunehmen, ob eine neue Methode unter Verwendung eines Hochrisikomedizinproduktes – im vorliegenden Fall der Mikropartikel – überhaupt ein sogenanntes Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative besitzt, kann an dieser Stelle nur spekuliert werden, ob die Methode diese Prüfung bestanden hätte: Das Fehlen vergleichender Daten sowie die vorliegende Evidenz, deren Ergebnissicherheit nur als minimal eingeschätzt werden kann und lediglich auf Anwendungsbeobachtungen bei nicht einmal 70 Patientinnen und Patienten beruht, lassen aus Sicht des Autors und der Co-Autorin doch erhebliche Zweifel daran aufkommen.
In dieser Gemengelage sah sich der G-BA nun gezwungen, eine Erprobungsrichtlinie zu erarbeiten und zu erlassen, wie sie zuvor beschrieben wurde. Dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in seiner Funktion als Rechtsaufsicht über den G-BA nach der Fristverletzung – die Richtlinie zur Erprobung der Mikropartikel hätte spätestens sechs Monate nach Vorliegen des Bewertungsergebnisses, dass diese Methode weder nützlich, schädlich oder unwirksam ist, verabschiedet werden müssen – nicht in den Prozess eingegriffen hat, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass dem Gesetzgeber durchaus bewusst ist, wie schwierig die Aufgabe für den G-BA ist, in diesen Fällen sachrichtige und zielgenaue Entscheidungen zu treffen.
Die Erprobungsrichtlinie kann in ihrer verhältnismäßig allgemein gehaltenen Form nur als folgerichtig bezeichnet werden, da sie letztlich den gesetzlichen Auftrag erfüllt. Gleichzeitig wird sie jedoch auch die von verschiedenen Seiten an sie gestellten Erwartungen enttäuschen. Diese Enttäuschung liegt insbesondere darin begründet, dass aktuelle leitliniengerechte Chemotherapieempfehlungen14, 16 beim lokal fortgeschrittenen, nicht resektablen, nicht metastasierten Pankreaskarzinom teils in fundamentalem Widerspruch stehen zur Zweckbestimmung17 des Hochrisikomedizinproduktes OncoSil™. Dies wurde auch durch das Einschätzungsverfahren, eine Sachverständigenanhörung sowie das Stellungnahmeverfahren des G-BA zur Erprobungsrichtlinie unterstrichen.12 Das Medizinprodukt ist gegenwärtig lediglich in Kombination mit einer gemcitabinbasierten Chemotherapie zugelassen und darf somit auch nur so zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden. Die dahinterliegenden Chemotherapieregimes, nämlich eine Kombination aus Gemcitabin und nab-Paclitaxel sowie die Monotherapie mit Gemcitabin, werden gegenwärtig nur Patientinnen und Patienten empfohlen, deren Allgemeinzustand reduziert ist (oder die den Therapiestandard FOLFIRINOX bei gutem Allgemeinzustand ablehnen). Laut Expertenmeinung sei jedoch lediglich die Population Adressatin der neuen Hochrisikomethode, die einen so guten Allgemeinzustand aufweist, dass eine hohe Chance besteht, dass neben der Chemotherapie eben auch die interne Bestrahlung gut toleriert werden kann. Es zeigt sich, dass der Hersteller des Hochrisikomedizinproduktes derzeit schlicht seiner Aufgabe noch nicht nachgekommen ist, die Zweckbestimmung an die aktuellen Therapierealitäten anzupassen. Gegenwärtig läuft zwar die Studie TRIPP-FFX25, die mit dem Ziel einer Erweiterung der Zweckbestimmung auf das FOLFIRINOX-Schema verbunden ist. Einen Zeithorizont, wann das Medizinprodukt tatsächlich dem aktuellen Versorgungsstand in Deutschland entsprechend angewendet werden könnte, lässt sich daraus jedoch nicht unmittelbar ableiten. So sollte die Studie laut Studienregistereintrag25 zwar im September 2024 beendet sein, zum Stand November 2024 war sie jedoch weiterhin als rekrutierend im Studienregister hinterlegt. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Phase II-Studie, also eine Studie zur Bewertung, ob das Hochrisikomedizinprodukt überhaupt wirksam und sicher ist sowie zur Dosisfindung. Die Studienergebnisse werden dann auch überhaupt erst zeigen, ob die Hochrisikomethode Mikropartikel die beschriebenen, verhältnismäßig guten Effekte der FOLFIRINOX-Therapie noch steigern kann, d. h. ob diese in der Kombination überhaupt wirkt. Aktuell gibt es nur Hinweise darauf, dass gemcitabinbasierte Chemotherapien durch Strahlung verstärkt werden.14
Diesem Dilemma begegnete der G-BA mit der bereits dargelegten Formulierung in seiner Erprobungsrichtlinie, dass die „Prüfintervention […] zusätzlich zur Erstlinienchemotherapie entsprechend dem nach dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse geltenden Therapiestandard“ zu erfolgen hat und diese mindestens „im Rahmen der Injektions-Implantation von 32P-markierten Mikropartikeln […] von der Zweckbestimmung des Medizinproduktes umfasst“12 sein muss. Aus dieser Textierung lassen sich nun mindestens drei verschiedene Szenarien herauslesen, mit denen die unabhängige wissenschaftliche Institution (uwI), die sich um die Ausgestaltung und eigentliche Durchführung der Erprobungsstudie zu kümmern hat, konfrontiert sein könnte:
- Das Unternehmen OncoSil Medical Ltd. hat bis zur eigentlichen Studiendurchführung erreicht, dass sein Hochrisikomedizinprodukt zusammen mit dem aktuell gängigen Therapiestandard FOLFIRINOX eingesetzt werden darf.
- Die Studie wird analog zur gegenwärtigen Zweckbestimmung mit der Kombinationschemotherapie Gemcitabin und nab-Paclitaxel und/oder Gemcitabinmonotherapie durchgeführt.
- Die uwI nimmt die G-BA-Formulierung wörtlich und unterbricht die leitliniengerechte Chemotherapie mit FOLFIRINOX, um während der Implantation der Mikropartikel auf eine gemcitabinbasierte umzuschwenken.
In allen drei Szenarien sind bei der konkreten Studienplanung und -durchführung weitere Herausforderungen zu erwarten. Der G-BA hat in den beiden Sätzen in Absatz 3 § 4 seiner Erprobungsrichtlinie festgelegt, dass die als „Therapiestandard […] in Prüf- und Vergleichsintervention gewählte Erstlinienchemotherapie […] zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbringbar sein“ muss und nur „den Einsatz von Arzneimitteln außerhalb ihres zugelassenen Anwendungsgebiets ein[schließt], sofern deren Bestimmung als zweckmäßige Vergleichstherapie in entsprechender Anwendung des § 6 Absatz 2 AM-NutzenV [Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung] zulässig ist“12 (Entscheidend für den vorliegenden Fall erscheint insbesondere § 6 Absatz 2 Spiegelstrich 2 AM-NutzenV).
Gemäß einer Fachinformation ist Gemcitabin als Monotherapie „zur Behandlung von Patienten mit lokal fortgeschrittenem […] Adenokarzinom des Pankreas“ zugelassen und „in Kombination mit Paclitaxel für die Behandlung von Patientinnen mit nicht operablem, lokal rezidiviertem oder metastasiertem Brustkrebs […]“26, nicht jedoch zur Behandlung lokal fortgeschrittener, nicht resektabler, nicht metastasierter Pankreaskarzinome. Auch ist nab-Paclitaxel gemäß einer Fachinformation aktuell nur „in Kombination mit Gemcitabin indiziert für die Erstlinienbehandlung von erwachsenen Patienten mit metastasiertem Adenokarzinom des Pankreas.“27 Entsprechend seines Charakters als Kombinationstherapie aus vier Wirkstoffen ist auch das FOLFIRINOX-Schema nicht zur Behandlung von lokal fortgeschrittenen, nicht resektablen, nicht metastasierten Pankreaskarzinomen zugelassen. Daraus lässt sich ableiten, dass lediglich eine Therapie mit Gemcitabinmonotherapie im Indikationsgebiet als „in-label“ angesehen werden kann und es sich bei der Gabe von Gemcitabin in Kombination mit nab-Paclitaxel oder von FOLFIRINOX um „Off-Label-Anwendungen bzw. -Use“ handelt, also um einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln außerhalb der von Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete. Ärztinnen und Ärzten ist eine „Off-Label-Anwendung“ von Arzneimitteln zwar grundsätzlich erlaubt, ihrer Erstattungsfähigkeit im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sind jedoch enge Grenzen gesetzt.28 So kann gemäß eines Urteils des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 (AZ.: B 1 KR 37/00 R) ein „Off-Label-Use“ eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sein, wenn damit eine schwerwiegende, lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung behandelt werden kann, für die keine andere Therapieoption (mehr) verfügbar ist und bei der aufgrund der Datenlage ein begründeter Verdacht besteht, dass ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
In diesen engen, vom Bundessozialgericht gezogenen „Off-Label-Use-Kriterien“ bewegt sich gegenwärtig die Leistungsvergütung von Patientinnen und Patienten mit nicht metastasierten, irresektablen, lokal fortgeschrittenen Pankreastumoren, die mit Gemcitabin in Kombination mit nab-Paclitaxel oder mit FOLFIRINOX behandelt werden: In Einzelfallprüfungen ist zu entscheiden, ob für die Behandlung dieser unbestreitbar schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankung keine andere Therapie verfügbar ist, was in den allermeisten Fällen bejaht werden dürfte und entsprechend eine Vergütung seitens der gesetzlichen Krankenversicherung auslöst. Um nun wieder den Bogen zu den Mikropartikeln zu spannen, könnte das bedeuten, dass im Rahmen der Erprobungsstudie alle zu rekrutierenden Patientinnen und Patienten, die eine Chemotherapie erhalten, die nicht eine Gemcitabinmonotherapie ist, „Einzelfälle“ im Sinne der Bundessozialgerichtssprechung wären – laut dem Kapitel „Schätzung der Studienkosten […]“ in den Tragenden Gründen zum Beschluss über die Erprobungsrichtlinie rechnet der G-BA hier mit bis zu 250 „Einzelfällen“.12 Das klingt zwar reichlich absurd, ist aber letztlich die aktuelle gesetzliche Vorgabe mit Pflicht zur Erprobung seitens des G-BA.
Hinzu kommt, wie bereits erwähnt, dass das Hochrisikomedizinprodukt nicht für die Anwendung im Rahmen einer FOLFIRINOX-Behandlung zugelassen ist. Würde es zusammen mit diesem Chemotherapieregime angewendet, fände quasi ein „doppelter Off-Label-Use“ statt. Dies ist jedoch nicht möglich, da auch während einer Erprobungsstudie Medizinprodukte nur im Rahmen ihrer Zweckbestimmung zum Einsatz kommen dürfen. Diese Hürde erklärt letztlich die Formulierung des G-BA, dass die Erstlinienchemotherapie nur „im Rahmen der Injektions-Implantation von 32P-markierten Mikropartikeln […] von der Zweckbestimmung des Medizinproduktes umfasst“ sein muss: Im hypothetischen Fall ergäbe sich hier die Möglichkeit, eine FOLFIRINOX-Behandlung zu beginnen, diese zu unterbrechen für die Gabe eines Zyklus Gemcitabin, in dessen Rahmen die Mikropartikel eingesetzt werden, um im Anschluss das FOLFIRINOX-Programm fortzuführen. Die Frage, wie eine Ethikkommission auf ein derartig unorthodoxes Vorgehen in einer klinischen Studie reagieren würde, bei dem letztlich Patientinnen und Patienten in der Interventionsgruppe nur zur Schaffung der Anwendungsmöglichkeit eines Medizinproduktes mit fraglichem Nutzen die leitlinienempfohlene Chemotherapie, von der positive Effekte bekannt sind14, für einen Zyklus vorenthalten wird, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.
Wie dargelegt, musste der G-BA einiges an Verrenkungen unternehmen, um für die Mikropartikel eine adäquate, wie vom Gesetz vorgesehene Erprobungsrichtlinie zu erstellen, die an vielen Stellen so offen formuliert ist, um der gegenwärtig unklaren Gesamtsituation gerecht zu werden. Es bleibt an dieser Stelle letztlich nur ein Appell an die uwI, bei der Konzipierung der eigentlichen Erprobungsstudie, die demnächst anstehen dürfte, klug und bedacht sowie tatsächlich im Sinne der Patientinnen- und Patientensicherheit zu entscheiden.
Wieder musste sich der G-BA mit einer Methode unter Verwendung eines Hochrisikomedizinproduktes beschäftigen, das nicht annähernd so weit ausgereift ist, dass es in der Schwerstkrankenversorgung tatsächlich flächendeckend zum Einsatz kommen könnte. Die Tatsache, dass die bereits erwähnte, herstellergesponserte Studie TRIPP-FFX25 als RCT durchgeführt wird, zeigt, dass Unternehmen durchaus in der Lage sind, selbst und vor Einbeziehung des G-BA geeignete Evidenz zu generieren.
In der Vergangenheit hatte der Autor bereits auf einen anderen ähnlich gelagerten Fall, die „Endovaskuläre Implantation eines Stentgrafts mit Klappenelement bei Trikuspidalklappeninsuffizienz“ hingewiesen29, bei dem tatsächlich, wie von diesem zum damaligen Zeitpunkt nur gemutmaßt, das Medizinprodukt aufgrund von Unreife vom Markt genommen wurde und die laufenden Beratungen über eine Erprobungsrichtlinie wieder eingestellt werden mussten. In den Tragenden Gründen zum Einstellungsbeschluss heißt es diesbezüglich, „dass aufgrund von aufgetretenen Stentbrüchen von einer weiteren Herstellung und einem weiteren Inverkehrbringen der medizinischen Sonderanfertigung abgesehen werde.“30