Heilmittel

Direktzugang für Heilmittelerbringer – ein Modell für Deutschland?

Juni 2023

Der direkte Weg zur Therapeutin oder zum Therapeuten ohne vorherige ärztliche Konsultation und Verordnung ist ein lang gehegter Wunsch von weiten Teilen der Heilmittelbranche. Aus Sicht der GKV kann dieser sogenannte „Direktzugang“ unter den richtigen Bedingungen mittel- bis langfristig Vorteile für die Patientenversorgung mit sich bringen. Zuvor sind jedoch Reformen an verschiedenen Stellen nötig, wie wir im Videointerview und im Artikel erläutern.

Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition sieht vor, noch in der laufenden Legislaturperiode ein Modellprojekt zum Direktzugang für therapeutische Berufe auf den Weg zu bringen. Laut Arbeitsplanung des Bundesministeriums für Gesundheit sind konkrete Vorschläge hierzu für das Versorgungsgesetz II im Herbst 2023 angekündigt. Während der Direktzugang oder „Direct Access“ in Australien, Neuseeland und den USA, zum Teil aber auch Europa wie in Schweden, Finnland, Großbritannien und den Niederlanden bereits gelebte Realität ist, scheiden sich an diesem Thema in Deutschland immer noch die Geister. Neben berufs- und standespolitischen „Gebietsansprüchen“, wer der erste Ansprechpartner für Patientinnen und Patienten ist, scheinen vor allem rechtliche Hürden zur Heilkunde und Ausbildung die politischen Entscheidungen zum Direktzugang zu erschweren.

Ausbildungsstandards in Deutschland reichen für einen Direktzugang nicht aus

Vergleicht man die Leitlinien der „World Confederation for Physical Therapy“ (WCPT) mit der deutschen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten (PhysTh-APrV), so ist festzustellen, dass wesentliche Kompetenzen für den Direktzugang in Deutschland bisher nicht vermittelt werden. So mangelt es vor allem an spezifischen Inhalten zur eigenständigen Diagnosestellung und Differentialdiagnostik sowie zur evidenzbasierten Problemlösung und Entscheidungsfindung. Nur so würden Therapierende in die Lage versetzt, selbstständig ohne ärztliche Verordnung zu behandeln. Vergleichbare Ausbildungsdefizite bestehen auch bei den anderen Heilmittelberufen.

Unterschiedliche Standards innerhalb Deutschlands

Die Ausbildungsstandards sind aufgrund der föderalen Bildungsstrukturen in Deutschland nicht einheitlich. In einigen Bundesländern existieren noch nicht einmal landeseinheitliche Lehrpläne, so dass der Umfang vermittelter Kenntnisse dort sogar von Schule zu Schule variiert. In der Physiotherapie qualifiziert bspw. die Primärausbildung bedauerlicherweise nicht für häufig nachgefragte Leistungen wie gerätegestützte Krankengymnastik, Manuelle Lymphdrainage oder Manuelle Therapie, sodass hierfür erst noch umfangreiche Weiterbildungen absolviert werden müssen. Ein Umstand, der mit einem Direktzugang nur schwer vereinbar ist.

Einheitliche Ausbildungsstandards, die die notwendigen Kompetenzen für einen Direktzugang und ein ausreichendes Leistungsspektrum abbilden, sind zwingende Voraussetzung für einen Direktzugang auch in Modellvorhaben.

Direktzugang in anderen Ländern unter anderen Bedingungen

Der Zugang zu den Therapieberufen ist in Ländern mit einem Direktzugang durchgängig nur über ein Hochschulstudium möglich. In Deutschland steht hingegen traditionell die berufsfachschulische Ausbildung im Vordergrund. Dies ermöglicht es auch jungen Menschen ohne Hochschulzugangsberechtigung, in einem der Therapieberufe zu arbeiten.

Entwertung fachschulischer Ausbildung verhindern

Akademische Studiengänge sind in den Gesundheitsfachberufen erst in jüngerer Zeit auf der Grundlage von Modellklauseln erprobt worden. Bei der geplanten Reform der Berufe in der Physiotherapie soll aus guten Gründen an dem Nebeneinander der fachschulischen und der hochschulischen Ausbildung festgehalten werden (Teilakademisierung). Bedenkt man jedoch den Umfang der für einen Direktzugang notwendigen Kompetenzen, so dürften sich diese kaum in eine dreijährige Berufsausbildung integrieren lassen. Folge wäre eine faktische Entwertung der fachschulischen Ausbildung, sofern man den Direktzugang ausschließlich akademisch ausgebildeten Therapeutinnen und Therapeuten überließe. Nachqualifizierungen für einen Direktzugang in Form von Weiterbildungen können die Kompetenzvermittlung in der grundständigen Ausbildung nicht ersetzen. Es stellt sich also die Frage, ob erst eine ganz neue Generation von qualifizierten Therapeutinnen und Therapeuten ausgebildet und auf einen Direktzugang vorbereitet werden muss. Bei der Heilkundeübertragung auf Pflegekräfte ist man einem solchen gestuften Fahrplan gefolgt.

Die Einführung eines Direktzugangs darf nicht zu einer Abwertung oder gar Abschaffung der fachschulischen Ausbildung führen.

Heilkunderecht ist nicht auf einen Direktzugang ausgelegt

Die eigenverantwortliche und weisungsfreie Ausübung von Heilkunde ist in Deutschland den Ärztinnen und Ärzten sowie Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern vorbehalten. Letztere benötigen hierfür eine Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz (HeilprG) und müssen den Nachweis erbringen, dass von ihrem Handeln keine Gefahren für das Allgemeinwohl und die Patientengesundheit ausgehen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen fest definierten oder gesetzlich normierten Beruf, der eine medizinische Grundausbildung erfordert, so dass Leistungen von Heilpraktikern aus nachvollziehbaren Gründen nicht Teil des GKV-Leistungskatalogs sind.

Rechtsprechung entwickelt die Heilkunde weiter

Heilmittelerbringer sind als Angehörige der Gesundheitsfachberufe nach deutschem Recht hingegen zur Krankenbehandlung grundsätzlich nur aufgrund einer ärztlichen Verordnung befugt. Sie unterliegen auf ihrem Gebiet stets ärztlichen Weisungen und üben als „Heilhilfsberuf“ keine Heilkunde im Sinne von § 1 HeilprG aus. Über die Rechtsprechung hat sich in den letzten Jahren für einzelne Heilmittelberufe eine auf ihr Fachgebiet begrenzte Erlaubnis zur eigenständigen Ausübung von Heilkunde entwickelt, der sog. „kleine“ oder „sektorale“ Heilpraktiker. Der Anspruch und die Kriterien für die Erlangung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis werden jedoch von den ausführenden Verwaltungsbehörden in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt.

Reform der Berufsgesetze ist nötig

Ein vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht aus dem Jahr 2021 kommt zu dem Schluss, dass es nicht allein der Rechtsprechung und der Verwaltung überlassen bleiben darf, festzulegen, welche Berufsgruppen eigenverantwortlich und weisungsfrei Heilkunde ausüben dürfen und welche Qualifikation hierfür erforderlich ist. Der sektorale Heilpraktiker in seiner jetzigen Form kann daher nicht die reguläre Grundlage für einen Direktzugang innerhalb der GKV-Versorgung sein. Der GKV-Spitzenverband erachtet eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, vorzugsweise in den Berufsgesetzen, als erforderlich, die die Angehörigen der Gesundheitsfachberufe mit der Kompetenz zur eigenverantwortlichen und selbstständigen Ausübung von Heilkunde auf ihrem Sektor ausstattet.

Es braucht eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für eine eigenständige und gebietsbezogene Ausübung von Heilkunde in den Berufsgesetzen.

Ein Modellvorhaben zum Direktzugang ist unter den aktuellen Bedingungen nicht umsetzbar. Es kann aber Anlass für den Gesetzgeber sein, sich mit grundsätzlichen Fragestellungen zur Weiterentwicklung der Heilkundeberufe zu beschäftigen. (chq / ema)

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