Worum geht es?

Seit etwa zwei Jahren beklagen sich herstellende Unternehmen von Medizinprodukten und ihre Verbände, aber auch zunehmend Ärztinnen und Ärzte darüber, dass die Patientenversorgung mit dringend benötigten Medizinprodukten immer schwieriger werde. Viele Produkte seien nicht, oder nicht mehr, lieferbar. Hersteller innovativer Produkte würden sich vom europäischen Markt abwenden und ihre Produkte zuerst lieber in den USA oder in China in den Verkehr bringen. Schuld an der schwierigen Versorgungssituation habe die im Jahr 2017 in Kraft getretene „gut gemeinte, aber schlecht gemachte“ EU-Medizinprodukteverordnung, die ein „bürokratisches Monster“ sei (Deutsche Krankenhausgesellschaft 2022). Besonders schlimm sei die Versorgung herzkranker Kinder betroffen: Aufgrund der Verordnung seien wichtige Herzkatheter für Neugeborene vom Markt verschwunden; das Leben von Säuglingen sei in Gefahr (Berliner Morgenpost 2022).

Was ist dran an diesen Vorwürfen?

Im Folgenden werden einige der häufig geäußerten Vorwürfe gegenüber der EU-Medizinprodukteverordnung faktenbasiert beleuchtet. Einschränkend sei vorausgeschickt: Leider sind zu dieser Thematik nur wenige Daten öffentlich verfügbar, denn zum einen ist die neue europäische Datenbank für Medizinprodukte EUDAMED noch nicht voll funktionsfähig. Zum anderen werden von den nationalen Zulassungsbehörden der EU-Mitgliedsstaaten keine Informationen über etwaige Sonderzulassungen von Medizinprodukten veröffentlicht. Ob also wirklich akute Versorgungsmängel drohen, lässt sich aktuell weder belegen noch mit Sicherheit ausschließen. Aus diesem Grund fordert der GKV-Spitzenverband seit längerem, dass entsprechende Daten durch die EU-Kommission auf europäischer Ebene systematisch gesammelt und transparent veröffentlicht werden. Es ist nicht zielführend, sich bei dieser Frage ausschließlich auf Ergebnisse von Herstellerumfragen (z. B. DIHK 2023) zu verlassen.

Verschärfung der EU-Medizinprodukteverordnung: Was war der Grund?

In aktuellen Medienberichten wird regelmäßig darauf verwiesen, dass die EU-Medizinprodukteverordnung primär in Reaktion auf den Skandal um Brustimplantate des französischen Hersteller Poly Implant Prothèse (PiP) beschlossen worden sei (Mitteldeutscher Rundfunk 2024). Die Reform sei über das Ziel hinausgeschossen, weil nun alle Hersteller aufgrund der kriminellen Energie eines einzelnen Unternehmens mit einem extrem hohen und teuren bürokratischen Aufwand konfrontiert seien.

Tatsächlich fiel die Veröffentlichung des Verordnungsentwurfs und die nachfolgende politische Diskussion in eine Zeit, in der nicht nur der PiP-Skandal, sondern viele weitere Medizinprodukteskandale die Berichterstattung dominierten (Metall-auf-Metall-Endoprothesen, Defibrillatorelektroden, Bandscheibenprothesen, sondenlose Herzschrittmacher usw.). Eine detaillierte journalistische Aufarbeitung dieser Skandale findet sich in den sogenannten Implant Files (Süddeutsche Zeitung Edition 2018). Auch in internationalen Fachkreisen wurde das alte EU-Medizinprodukterecht in der Vergangenheit als viel zu lasch kritisiert (Cohen und Billingsley 2011).

Im Jahr 2012 gab es noch mehr als 80 Benannte Stellen – was zu einem starken Wettbewerb um Medizintechnik-Unternehmen und damit zu einer Absenkung der qualitativen Anforderungen an die Zertifizierung führte. Die Größe des Problems wurde durch eine gemeinsame Recherche vom British Medical Journal und Daily Telegraph offensichtlich (Cohen 2012). Dabei erklärten sich gleich mehrere Benannte Stellen bereit, Zertifizierungsverfahren für eine offensichtlich schädliche Hüft-Endoprothese einzuleiten. Ähnliches ist der holländischen Journalistin Jet Schouten gelungen, die im Rahmen einer investigativen Recherche von drei Benannten Stellen die Zusage für die Begleitung eines Konformitätsbewertungsverfahrens für ein „Vaginalnetz“ erhalten hatte, bei dem es sich in Wirklichkeit lediglich um ein Mandarinennetz handelte (Allsop 2018).

Fazit:
In den Jahren 2010 bis 2013 häuften sich die Medizinprodukteskandale. Diese hatten tiefe systemische Ursachen und beruhten nicht „nur“ auf der kriminellen Energie einzelner Personen. Eine Reform des Medizinprodukterechts war überfällig, um insbesondere die Qualität der Benannten Stellen zu verbessern.

Ein Neugeborenes wird auf eine Babywaage gelegt

Ist der Aufwand für die klinische Bewertung eines Medizinprodukts durch die neue EU-Verordnung gestiegen?

Als klinische Bewertung bezeichnet man den Prozess, mit dem das herstellende Unternehmen nachweist, dass sein Produkt die einschlägigen grundlegenden Anforderungen an die Sicherheit und Leistungsfähigkeit erfüllt. Grundsätzlich hat sich an diesem Prozess nichts geändert. Das verantwortliche Unternehmen hatte und hat bei der klinischen Bewertung die einschlägige wissenschaftliche Fachliteratur über sein Produkt sowie über ggf. gleichartige Produkte zu bewerten. Allerdings sind nun bestimmte Vorgaben, die nach altem EU-Recht lediglich als Empfehlungen galten, verbindlich ins Gesetz geschrieben. Neu hinzugekommen ist ferner die gesetzliche Anforderung, die klinische Bewertung während des gesamten Produktlebenszyklus kontinuierlich zu aktualisieren und einen Plan für die klinische Nachbeobachtung der Produkte zu etablieren. Zwar hatten auch nach altem EU-Recht die Hersteller eine Marktbeobachtungspflicht, doch war sie nicht detailliert geregelt.

Früher reichte es in den meisten Fällen für das Konformitätsbewertungsverfahren aus, bei der klinischen Bewertung lediglich die technische Gleichartigkeit mit einem Vorläuferprodukt oder dem Produkt eines Wettbewerbers nachzuweisen, um es in den Verkehr zu bringen. Dieser Ansatz folgt der Logik, dass zu dem „gleichartigen“ Produkt bereits hinreichend klinische Erfahrungen und auch Ergebnisse von klinischen Prüfungen mit Patientinnen und Patienten vorliegen, sodass weitere Patientendaten daher entbehrlich sind. Dieses Vorgehen, das auch in den USA im Rahmen der sogenannten 510(k)-Zulassung üblich ist, wurde und wird jedoch vielfach von Experten als zu riskant kritisiert (Hines et al. 2010, Everhart et al. 2023), da sich die Gleichartigkeitsnachweise über mehrere Produktgenerationen gleich mehrerer Hersteller erstrecken können und infolgedessen die neuen Produkte mit den ursprünglich klinisch geprüften „Großvatertechniken“ oft nicht mehr viel zu tun haben (Ardaugh 2014). Dies war unter anderem der Grund für die Probleme mit Großkopf-Metall-auf-Metall-Endoprothesen, die aufgrund eines unerwartet starken Metallabriebs zu Gewebenekrosen führten und häufiger als erwartet brachen (Heneghan 2012).

Deshalb schreibt die neue EU-Verordnung nun vor, dass Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse III grundsätzlich in einer eigenen klinischen Prüfung getestet werden müssen. Allerdings gibt es von dieser Regel auch relevante Ausnahmen.

Fazit:
Für den überwiegenden Teil der Medizinprodukte, besonders der niedrigen Risikoklassen, hat sich an den Anforderungen an die klinische Bewertung nicht allzu viel geändert. Allerdings sind für Hochrisikoprodukte die Anforderungen an die Datenqualität gestiegen, wie im Folgenden ausgeführt wird.

Müssen für alle Medizinprodukte klinische Prüfungen mit Studienpatientinnen und –patienten durchgeführt werden?

In der medialen Berichterstattung wurde vielfach die Kritik geäußert, dass die neue Medizinprodukteverordnung übermäßige Anforderungen an die Neuzertifizierung von Produkten stelle, die sich im Markt „seit Jahren bewährt“ hätten. Vielfach müssten nun auch noch einmal klinische Prüfungen durchgeführt werden, obwohl die Sicherheit und der Nutzen seit Jahren bekannt seien.

Tatsächlich sind aufgrund der Probleme durch das oben dargestellte „Grandfathering“ bei der klinischen Bewertung die Anforderungen an die klinischen Daten von Medizinprodukten der Klasse III deutlich verschärft worden. Gemäß EU-Medizinprodukteverordnung sind nun für diese Produkte klinische Prüfungen durchzuführen - es sei denn, es handelt sich um Weiterentwicklungen gleichartiger, bereits im Markt befindlicher Produkte desselben Herstellers, oder der Hersteller hat vollumfänglichen Zugang zur technischen Dokumentation des Produktes, zu dem er die Gleichartigkeit nachweist. Auch für Produkte, die bereits nach den alten EU-Richtlinien in den Verkehr gebracht wurden, müssen keine eigenen klinischen Prüfungen mehr durchgeführt werden, sofern sich ihre Bewertung auf ausreichende klinische Daten stützt. So sieht es die Verordnung in Artikel 61 Absatz 6 vor.

Umso verwunderlicher ist der Vorwurf, es müssten für all diese Produkte zwingend „unnötige“ klinische Prüfungen durchgeführt werden. Sofern Bestandsprodukte über mehrere Jahre ohne besondere Vorkommnisse klinisch verwendet wurden, sollte es für die Hersteller kein Problem sein, ihre klinische Bewertung auf eine ausreichende Datenbasis zu stellen. Auch das alte EU-Recht hat die Unternehmen zur Marktbeobachtung und Vorkommnisüberwachung verpflichtet, sodass davon auszugehen ist, dass für Bestandsprodukte hinreichende klinische Daten vorliegen müssten.

Fazit:
Die Pflicht zur Durchführung klinischer Prüfungen gilt auch nach neuem EU-Recht nur für Medizinprodukte hoher Risikoklasse. Es sind viele Ausnahmen vorgesehen, insbesondere auch für bereits auf dem Markt befindliche Bestandsprodukte – sofern für diese überhaupt belastbare klinische Daten vorliegen.

Fehlende Ballonkatheter für herzkranke Neugeborene: Wirklich Schuld der EU-Medizinprodukteverordnung?

Als dominierendes Beispiel für die negativen Effekte der Medizinprodukteverordnung werden in der politischen Auseinandersetzung und auch in den Medien immer wieder spezielle Ballonkatheter genannt. Diese Katheter sind notwendig, um bei bestimmten Fehlbildungen am Herzen Neugeborener die Zwischenwand der beiden Herzvorhöfe zu eröffnen und damit das sauerstoffangereicherte Blut so umzuleiten, dass die Kinder lebensfähig sind. Für diese Prozedur (sogenannte Atrioseptostomie) gab es vor mehreren Jahren noch Produkte dreier unterschiedlicher Hersteller auf dem Markt, von denen zwei den Vertrieb ihrer Produkte eingestellt haben. Der dritte Hersteller hat angekündigt, eine Weiterentwicklung seines Produktes aufgrund der überhöhten Zertifizierungskosten nicht EU-weit in den Verkehr bringen zu wollen.

Im Folgenden findet sich eine Aufstellung der Hersteller von Atrioseptostomiekathetern sowie die tatsächlichen Gründe für ihre Nicht-Verfügbarkeit.

Herstellerunternehmen von Atrioseptostomiekathetern

Im Jahr 2019 wurden vom Hersteller Edwards die beiden von ihm vermarkteten Katheter zur Ballonatrioseptostomie (Katheter nach Miller und Katheter nach Fogarty) vom Markt genommen. Verbunden mit der Marktrücknahme war ein dringender Sicherheitshinweis aufgrund einer möglichen lebensbedrohlichen Fehlfunktion. Der Rückruf erfolgte weltweit und betraf alle im Umlauf befindlichen Produkte, auch alle Lagerbestände der Krankenhäuser. Die EU-Medizinprodukteverordnung ist nicht der Grund für den Rückruf (https://www.bfarm.de/SharedDocs/Kundeninfos/DE/07/2019/05363-19_kundeninfo_de.pdf?__blob=publicationFile).

Mittlerweile sind die beiden Katheter in den USA wieder auf dem Markt erhältlich, eine Zulassung erfolgte im Herbst 2022. Ob von der Firma Edwards für diese Produkte in der EU eine Neuzertifizierung angestrebt wird, ist gegenwärtig nicht offiziell bekannt, ebenso wenig wie zum Vorliegen nationaler Sonderzulassungen. Eine diesbezügliche Anfrage des GKV-Spitzenverbands beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte blieb unbeantwortet. Der GKV-Spitzenverband hat auch beim Unternehmen angefragt und um Informationen über mögliche Sonderzulassungen der Produkte gebeten. Diese Anfrage blieb ebenfalls unbeantwortet.

Medtronic veröffentlichte im August 2020 einen Sicherheitshinweis zu seinem Produkt „Rashkind Ballon Septostomie Katheter“, verbunden mit einem Rückruf mehrerer Modelle und Chargen des Produkts. Grund für den Rückruf waren mehrere Vorkommnisse, die sogar in einem Fall zum Tod eines Säuglings geführt hatten. Auch hier erfolgte der Rückruf dieser Produktchargen weltweit (https://www.bfarm.de/SharedDocs/Kundeninfos/DE/07/2020/13739-20_kundeninfo_de.html).

Noch im selben Jahr entschied sich Medtronic darüber hinaus für die vollständige Einstellung der Herstellung und des weltweiten Vertriebs dieser Produkte, und zwar aus „Gründen, die nichts mit dem Rückruf zu tun haben“ (https://www.fda.gov/media/144252/download). Ob die EU-Medizinprodukteverordnung bei der Entscheidung eine wesentliche Rolle spielte, erscheint vor diesem Hintergrund mehr als fraglich.

Der Hersteller NuMed vertreibt in der EU auf der Basis nach „altem“ EU-Recht geltender Zertifikate seinen Atrioseptostomiekatheter Z-5. Die DKG bezeichnet dieses Produkt in ihrer Pressemitteilung wie folgt: „Die Krankenhäuser sind hier auf Lagerbestände und eine einzige nur unzureichende Alternative angewiesen.“ In einer Publikation werden vom Hersteller postulierte Kosten für eine Neuzertifizierung seines Produkts nach den Regeln der EU-MDR angegeben, die weit mehr als zehnmal so teuer seien und zehnmal so lange Bearbeitungszeit in Anspruch nehmen würden wie in den USA oder in Kanada. Das Nachfolgeprodukt, der NuMed Z-6, ist zwar in den USA und Kanada, nicht aber in der EU verfügbar. Es kann jedoch als sicher gelten, dass einzelne Mitgliedsstaaten das Produkt Z-6 per Ausnahmeregelung nach Artikel 59 der EU-Verordnung als Sonderzulassung jeweils national verfügbar gemacht haben. Daten sind zu diesem Thema nicht öffentlich zugänglich; eine entsprechende Anfrage des GKV-Spitzenverbands beim für Sonderzulassungen zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte blieb auch hier unbeantwortet.

Bei den Produkten dieses Herstellers spielt die EU-Verordnung möglicherweise eine Rolle für ihre Verfügbarkeit, auch wenn das Produkt Z-5 auf Grundlage von Zertifikaten gemäß den alten EU-Richtlinien derzeit auf dem EU-Markt vertrieben wird.

Fazit:
Die neue EU-Verordnung ist nicht der Grund für die Marktrücknahmen, die zur Verknappung von Atrioseptostomiekathetern geführt haben. Aber möglicherweise ist sie der Grund, dass neue Produkte nicht so schnell auf den Markt kommen. Jedenfalls wird dieses Argument politisch stark instrumentalisiert, obwohl es politische Lösungsmöglichkeiten gibt, die auch bereits beschritten werden.

Seit wann ist das Gerücht in der Welt, die EU-Verordnung sei schuld am Fehlen der Atrioseptostomiekatheter?

Zum ersten Mal wurde der Vorwurf in einer Pressemitteilung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) vom 22. Juni 2022 laut, in der die Ballonkatheter für die Neugeborenenversorgung ausdrücklich genannt wurden (DKG 2022). Die Pressemitteilung wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, an dem die DKG zusammen mit medizinischen Fachgesellschaften Briefe an den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und an die EU-Kommission versandt hatte. Der GKV-Spitzenverband hat mehrfach auf die falsche Darstellung bezüglich der Ballonkatheter für Neugeborene hingewiesen (GKV-Spitzenverband 2022, Dettloff 2022).

Gibt es nach neuem EU-Recht zu wenige Benannte Stellen für zu viele Medizinprodukte?

In den vergangenen Jahren wurde immer wieder kritisiert, dass Hersteller Schwierigkeiten haben, für die Zertifizierung ihrer Produkte eine Benannte Stelle mit freien Kapazitäten zu finden. Zwei Gründe wurden hierfür besonders hervorgehoben: Zum einen war die Zahl der Benannten Stellen bei Geltungsbeginn der neuen EU-Verordnung sehr niedrig. Zum anderen müssen nicht nur neue, sondern auch alle Bestandsprodukte rechtzeitig vor Ablauf der Übergangsfristen ein Zertifikat nach der neuen Medizinprodukteverordnung erhalten, um auf dem Markt bleiben zu können. Da allerdings die meisten Hersteller diese Übergangsfristen so ausgenutzt haben, dass die Zertifikate nach altem Medizinprodukterecht möglichst lange ihre Gültigkeit behalten, kam es zu einem „Zertifikatestau“, der absehbar nicht rechtzeitig abgebaut werden konnte. Dieser „Zertifikatestau“ wurde noch durch die Corona-Pandemie verstärkt, die eine Durchführung von notwendigen Unternehmensaudits erschwerte oder sogar verunmöglichte.

Mit Blick auf das Ende der Übergangsfristen gab es also offensichtlich ein Problem. Mehrere tausend Zertifikate drohten ihre Gültigkeit zu verlieren, womit auch die Verkehrsfähigkeit der entsprechenden Produkte erloschen wäre. Aus diesem Grund wurden mit EU-Gesetzgebungsverfahren die Übergangsfristen zweimal verlängert, um einerseits den betroffenen Unternehmen Zeit zu geben, rechtzeitig eine Benannte Stelle zu finden, und um andererseits die Kapazitäten von Benannten Stellen auszubauen. Mittlerweile (Stand: April 2024) sind 44 Stellen für die EU-Medizinprodukteverordnung benannt, was ungefähr der Anzahl der Benannten Stellen für die alten Medizinprodukterichtlinien im Jahr 2019 entspricht. Die neuen Benannten Stellen haben ihre Personalkapazitäten stark ausgebaut.

Fazit:
Derzeit sind die verfügbaren Kapazitäten der Benannten Stellen trotz aller politischen Bemühungen stark ausgelastet. Es ist damit zu rechnen, dass nach Abbau des „Zertifikatestaus“ eine Normalisierung eintreten wird und Verzögerungen eher einen Ausnahmefall darstellen werden.

Ist eine Zulassung in den USA wirklich schneller und billiger als in der EU?

In der EU
In der medialen Darstellung wird von vielen Medizintechnikunternehmen beklagt, dass die Zertifizierungsverfahren nach neuem EU-Recht viel zu lange dauern und auch viel teurer seien als nach den alten Regelungen. Deswegen drohen die Unternehmen damit, ihre Produkte nicht mehr in der EU, sondern zunächst nur in den USA oder in China oder Indien auf den Markt zu bringen (Tagesschau 2024).

Anders als in den USA folgt das Marktzugangssystem für Medizinprodukte in der EU dem sogenannten New Approach. Demzufolge ist das Unternehmen für die Sicherheit und Leistungsfähigkeit selbst verantwortlich und auch haftbar. Die Kompetenzen und Regelungsbefugnisse des Staates werden auf das notwendige Mindestmaß beschränkt. Daher gibt es kein staatliches Zulassungssystem, sondern eine Kontrolle der Konformität der Medizinprodukte mit EU-Recht durch privatwirtschaftlich tätige Unternehmen, den Benannten Stellen. Dies war im EU-Gesetzgebungsverfahren von den Verbänden der Medizintechnikunternehmen ausdrücklich so eingefordert worden. Als privatwirtschaftlich tätige, im Wettbewerb stehende Unternehmen veröffentlichen die Benannten Stellen nur sehr rudimentäre Angaben zu Gebühren oder auch zu Fristen für die Bearbeitung von Herstelleranträgen.

Dennoch finden sich in verschiedenen Medienberichten Angaben zu Zertifizierungskosten, die sechsstellige Eurobeträge betragen sollen. Ein Hersteller gibt an, aufgrund von „Millionenbeträgen“ gleich mehrere Produkte nicht auf den europäischen Markt bringen zu wollen (Tagesschau 2024). Aufgrund der fehlenden Kostentransparenz lassen sich diese Angaben nicht überprüfen. Zwar sind auf den Internetseiten mehrerer Benannter Stellen Stundensätze für bestimmte Zertifizierungsaufgaben veröffentlicht; welche Gesamtsumme aber jeweils zusammenkommt, hängt hauptsächlich von den Fragen ab, ob es sich um eine Erstzertifizierung oder um Rezertifizierungen handelt, welche Risikoklasse das Medizinprodukt aufweist und wie hoch der administrative Aufwand für die beauftragte Benannte Stelle ist – je besser die Qualität der vom Hersteller bereitgestellten Unterlagen, desto günstiger müssten die Kosten für die Zertifizierung ausfallen. Die EU-Kommission führt unter den Benannten Stellen regelmäßig Umfragen durch, um einen Überblick über den aktuellen Stand der Zertifizierungen und über Zertifizierungsfristen zu erhalten und auch die Gründe zu erfahren, die ggf. zu Verzögerungen führen (EU 2024). Den veröffentlichten Daten ist zu entnehmen, dass die Zahl der Zertifizierungsanträge sowie auch der ausgestellten Zertifikate kontinuierlich ansteigt. Offensichtlich zahlt es sich aus, dass die Zahl der Benannten Stellen in den letzten zwei Jahren auf mittlerweile 44 Einrichtungen (Stand: April 2024) deutlich angewachsen ist.

Der Umfrage zufolge werden Herstelleranträge überwiegend innerhalb von weniger als zwei Monaten von den Benannten Stellen akzeptiert. Allerdings geben die Benannten Stellen an, dass ein sehr großer Anteil an eingereichten Herstellerdokumentationen unvollständig ist: Im Oktober 2023 waren nur 26 Prozent der eingereichten Unterlagen zu mehr als 50 Prozent vollständig! Dies hat natürlich Einfluss auf die Dauer der Erstzertifizierung: 77 Prozent der Benannten Stellen geben an, dass die durchschnittliche Zeit bis zur vollständigen Erstzertifizierung für Produkte und das Qualitätsmanagementsystem mehr als 13 Monate beträgt. Es ist zu hoffen, dass sich dieser Zeitraum durch verbesserte Prozessabläufe und durch die gewonnene Erfahrung im neuen System deutlich verkürzen wird. Irgendwann wird der „Zertifikatestau“ auch abgearbeitet sein – und die notwendigen Rezertifizierungen werden zeitlich und finanziell einen deutlich verringerten Aufwand bedeuten.

Vergleich mit den USA
In einer Publikation aus dem Jahr 2022 (Melvin 2022) wurden Kosten und Bearbeitungszeiträume für das Inverkehrbringen eines Atrioseptostomiekatheters der Firma Numed in den USA und in der EU genannt:

  EU USA
Kosten der Bewertung 135.844,- EUR (alle fünf Jahre) 3.030,- EUR (einmalig)
Dauer der Bewertung 18–24 Monate 30 Tage in spezialisiertem
510(k)-Verfahren

Stimmen diese Angaben? Was die Kosten der Zulassung in den USA angeht, lautet die Antwort nein. Die FDA veröffentlicht jährlich die Gebühren für eine Zulassung (FDA 2024) bzw. bestimmte damit verbundene Prozesse. Für kleine Unternehmen gelten abgesenkte Beträge. Unabhängig vom Zulassungsverfahren und der Unternehmensgröße muss im Jahr 2024 immer ein Grundbetrag in Höhe von 7.653 USD bezahlt werden; dazu kommen Gebühren für die eigentliche Zulassung, die zwischen 5.440 USD (510k-Verfahren, Kleinunternehmen) und 483.560 USD (Premarket Approval, Normalgebühr) liegen. Ferner sind Gebühren für Änderungsanzeigen o. ä. gelistet. Selbst für einen kleinen Hersteller beträgt die Gebühr für eine Zulassung im 510(k)-Verfahren im Jahr 2024 also mindestens 13.093 USD (ca. 12.300 EUR).

Für die Unterlagenprüfung durch die FDA im Rahmen der Zulassungsverfahren gelten Fristen, die sich auf den Internetseiten recherchieren lassen. Voraussetzung ist, dass die Unterlagen vollständig sind und die Gebühren entrichtet wurden. Die Prüfung im Rahmen eines 510(k)-Verfahrens soll innerhalb von 90 Tagen abgeschlossen sein; ein Premarket Approval dauert nach vollständigem Vorliegen der Zulassungsunterlagen 180 Tage. Sind die Unterlagen nicht vollständig, beginnt die Uhr für die Fristen auch nicht zu laufen. Allein aus diesem Grund sind die Bearbeitungszeiten zwischen den Benannten Stellen der EU und der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA nicht vergleichbar. Denn die Angaben der Benannten Stellen beziehen sich wie dargestellt auf den Antragseingang, bei überwiegend unvollständigen Anträgen.

Fazit:
Die Zulassungs-Systeme zwischen den USA und der EU unterscheiden sich relevant. In der EU liegt die Verantwortung für die Zertifizierung von Medizinprodukten nicht bei einer Behörde, sondern bei privatwirtschaftlich organisierten Benannten Stellen. Dies ist politisch gewollt und führt zu Intransparenz bei den Zertifizierungskosten und Bearbeitungszeiten. Der Transformationsprozess zwischen altem und neuem Medizinprodukterecht ist in vollem Gange und die Lernkurve sowohl bei den Medizintechnikunternehmen als auch bei den Benannten Stellen ist steil. Sobald der „Zertifizierungsstau“ der Bestands-Medizinprodukte abgearbeitet sein wird, wird sich die Situation in Europa für die herstellenden Unternehmen deutlich entspannen. Für innovative Hochrisikomedizinprodukte, die in den USA ein Premarket Approval benötigen, ist der finanzielle, organisatorische und zeitliche Aufwand für die Unternehmen sehr hoch und übersteigt wahrscheinlich nach wie vor die Anforderungen in der EU.

Gesamtfazit: Gibt es belastbare Hinweise darauf, dass sich die Patientenversorgung in Europa nach der EU-Medizinprodukteverordnung systematisch verschlechtert?

Abgesehen von Herstellerumfragen und Einzelberichten von betroffenen Ärztinnen und Ärzten gibt es derzeit keine Anhaltspunkte für eine systematische Verschlechterung der medizinischen Versorgung mit Medizinprodukten. Bisher haben weder die EU-Kommission noch die medizinischen Fachgesellschaften belastbare Daten vorgelegt, die auf eine drohende Unterversorgung oder gar akute Versorgungsengpässe hinweisen. Für die Lösung etwaiger akuter Versorgungsprobleme lässt das EU-Recht zu, dass die Mitgliedsstaaten bestimmte Produkte per Sonderzulassung verkehrsfähig machen können.

Es ist davon auszugehen, dass die Mitgliedsstaaten von dieser Option zur Sicherstellung der Versorgung besonders vulnerabler Gruppen wie Neugeborene oder Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen Gebrauch machen. Möglicherweise wurden über diesen Weg auch einige der oben beispielhaft genannten Atrioseptostomiekatheter behördlich zugelassen. Leider sind jedoch Daten über per Sonderzulassung verkehrsfähige Medizinprodukte nicht öffentlich zugänglich und entsprechende Anfragen bei der verantwortlichen Behörde blieben unbeantwortet. Aus Sicht des GKV-Spitzenverbands stellt diese Intransparenz bei Sonderzulassungen ein Problem dar, weil auch Krankenhäuser entsprechende Informationen nicht selbst recherchieren können.

Das EU-weite Inverkehrbringen sogenannter Orphan Devices stellt für kleine Unternehmen wohl tatsächlich eine größere organisatorische und finanzielle Herausforderung dar. Für diese Hersteller muss auf europäischer Ebene eine Lösung gefunden werden, die die Entwicklung und Vermarktung ihrer Produkte fördert, ohne dass Abstriche an der Patientensicherheit gemacht werden. Der GKV-Spitzenverband hat gemeinsam mit der Deutschen Sozialversicherung (DSV) und der European Insurance Platform (ESIP) einen Lösungsvorschlag unterbreitet. „Orphan Devices“ könnten unter bestimmten Bedingungen von einer Europäischen Behörde zugelassen werden – und ähnlich wie in den USA könnte eine besondere Gebührenordnung für kleine und mittlere Unternehmen Entlastungen vorsehen (ESIP 2023).

Literatur

Allsop J. 2018. Under the skin of ICIJ’s Implant Files. Columbia Journalism Review. https://www.cjr.org/special_report/behind_the_scenes_icij_implant_files.php; Zugriff am 10.04.2024.

Ardaugh BM, SE Graves und RF Redberg 2013. The 510(k) Ancestry of a Metal-on-Metal Hip Implant. N Engl J Med 368;2: 97-100.

Berliner Morgenpost vom 3.11.2022. Brustimplantate-Skandal: Ärzte warnen vor neuen EU-Auflagen. https://www.morgenpost.de/politik/article236820847/brustimplantate-skandal-eu-auflagen-medizinprodukte.html; Zugriff am 10.04.2024

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Cohen D und M Billingsley 2011. Europeans are left to their own devices. In: BMJ 2011 342. d2748.

Dettloff M 2022. Deutsche Krankenhausgesellschaft und EU-Medizinprodukteverordnung: Theaterdonner verdeckt die wahren Probleme. Gesundheits- und Sozialpolitik 3/2022; DOI: 10.5771/1611-5821-2022-3-63.

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DIHK 2023. Aktuelle Bilanz der Hersteller von Medizinprodukten zu den Auswirkungen der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR). https://www.dihk.de/resource/blob/109172/174eaca0ad957bba935216412c163f2b/wirtschaftspolitik-dihk-medicalmountains-spectaris-mdr-umfrage-2023-data.pdf; Zugriff am 10.04.2024.

ESIP 2023. ESIP Statement on the Implementation of Regulation (EU) 2017/745 on Medical Devices. https://esip.eu/images/ESIP_Statement_on_the_Implementation_of_Regulation_EU_2017-745_MDR.pdf; Zugriff am 10.04.2024.

European Commission 2023. Updated document - Notified Bodies Survey on certifications and applications (MDR/IVDR) (kontinuierlich revidiert). https://health.ec.europa.eu/document/download/59b9d90e-be42-4895-9f6f-bec35138bb0a_en?filename=md_nb_survey_certifications_applications_en.pdf; Zugriff am 10.04.2024.

Everhart, AO, S Sen, AD Stern, et al 2023. Association Between Regulatory Submission Characteristics and Recalls of Medical Devices Receiving 510(k) Clearance. JAMA 329:144-156.

FDA 2024. Medical Device User Fee Amendments. https://www.fda.gov/industry/fda-user-fee-programs/medical-device-user-fee-amendments-mdufa; Zugriff am 10.04.2024.

GKV-Spitzenverband 2022. Pressemitteilung. URL: https://www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/presse/pressemitteilungen_und_statements/pressemitteilung_1475712.jsp; Zugriff am 10.04.2024.

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Hines JZ, P Lurie, E Yu et al. 2010. Left to Their Own Devices: Breakdowns in United States - Medical Device Premarket Review. PLOS Medicine Volume 7 Issue 7, e1000280.

Melvin T, D Kenny, M Gewillig et al. 2022. Orphan Medical Devices and Pediatric Cardiology – What Interventionists in Europe Need to Know, and What Needs to be Done. Pedriatric Cardiology 2022; https://doi.org/10.1007/s00246-022-03029-1.

Mitteldeutscher Rundfunk 2024. Mangel an Medizinprodukten wegen teurer Zertifizierung – besonders Kinder leiden. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/medizin-produkte-mangel-kinder-zertifizierung-eu-100.html#:~:text=Wegen%20eines%20Skandals%20um%20mangelhafte,jedes%20ihrer%20Produkte%20zertifizieren%20lassen; Zugriff am 10.04.2024.

Tagesschau 2024. Warum Ärzten wichtige Medizinprodukte fehlen. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/medizinprodukte-zulassungsverfahren-verzoegerungen-100.html; Zugriff am 10.04.2024.

Über den Autoren

Dr. Matthias Dettloff

Dr. Matthias Dettloff, Autor des Artikels

Dr. Matthias Dettloff ist Fachreferent im Referat Methodenbewertung in der Abteilung Medizin beim GKV-Spitzenverband. Er beschäftigt sich dort mit medizinprodukterechtlichen Fragen und vertritt den Verband im Gemeinsamen Bundesausschuss u. a. in den Gremien, die für die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie für die Vergabe und Durchführung von Erprobungsstudien zuständig sind.

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