Erprobung von Behandlungsmethoden

Ein Autorenbeitrag von Dr. Nick Bertram

Kaltplasmabehandlung chronischer Wunden

G-BA beschließt pragmatische Erprobung

April 2023

Seit über zehn Jahren hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Möglichkeit, zu Innovationen selbst klinische Studien in Auftrag zu geben. Dem G-BA wird von Industrie und Leistungserbringenden oft vorgeworfen, bei der Studienmethodik allzu dogmatisch zu sein und durch überhöhte Anforderungen deren praktische Umsetzbarkeit zu gefährden. An einem konkreten Beispiel wird in diesem Text dargestellt, dass der G-BA hierbei sehr wohl flexibel und pragmatisch am Versorgungssystem orientiert vorgeht, ohne dabei das Ziel eines methodisch tragfähigen Nachweises des Nutzens für Patientinnen und Patienten aus den Augen zu verlieren.

Inhalt

Einleitung: Die „Volkskrankheit“ chronische Wunde

Bis heute gibt es keine einheitliche Definition des Begriffes chronische Wunde. Im Allgemeinen werden Verletzungen der Haut, die nicht von selbst wieder abheilen, als chronische Wunden bezeichnet. Die Zeit, ab der eine Wunde als chronisch eingeordnet wird, ist jedoch nicht eindeutig definiert. Einige Autorinnen und Autoren sprechen bereits von chronischen Wunden, wenn diese nach vier Wochen nicht abgeheilt sind [1], andere wiederum erst nach acht [2] oder sogar zwölf Wochen [3]. Ältere, eher vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass etwa drei bis vier Millionen Deutsche an chronischen Wunden leiden [4]. Typische Symptome von chronischen Wunden sind Rötung, Verfärbung, Juckreiz, unangenehmer Geruch, Entzündungen oder Schmerzen [3].

Die Ursachen für chronische Wunden sind vielfältig. Zumeist liegen Grunderkrankungen vor, die die Blutgefäße schädigen, und so bei den Betroffenen zur Ausbildung von chronischen Wunden führen und schließlich auch dafür sorgen, dass diese schlecht verheilen. So leben in Deutschland etwa 4,5 Millionen Menschen, die an der Durchblutungsstörung periphere arterielle Verschlusskrankheit erkrankt sind [5], sowie etwa 8,5 Millionen Diabetikerinnen und Diabetiker [6]. Diese Erkrankten haben ein besonders hohes Risiko, chronische Wunden auszubilden. So treten bspw. die auch als diabetischer Fuß (Fußulcus) bezeichneten Wunden bei etwa 400.000 der deutschen Zuckerkranken auf [7]. Weiterhin entwickeln etwa 50.000 bis 80.000 aller an einer Venenschwäche (chronisch-venöse Insuffizienz) Leidenden eine als offenes Bein (Ulcus cruris venosum) bezeichnete chronische Wunde [2]. Aber auch mechanischer Druck kann zu chronischen Wunden führen, so etwa bei pflegebedürftigen Menschen, die lange und unbewegt im Bett liegen müssen. Es wird geschätzt, das über 400.000 Personen pro Jahr in Deutschland diese auch als Dekubitus bezeichneten Druckgeschwüre bekommen [8].

Die Behandlung von chronischen Wunden ist langwierig und leider oft nicht erfolgreich. Zu den Folgen von nicht oder unzureichend behandelten chronischen Wunden zählen neben den bereits genannten Symptomen im schlimmsten Fall auch Bewegungseinschränkungen, Blutvergiftungen (Sepsis), Eiteransammlungen (Abszess) oder sogar die Entfernung (Amputation) von betroffenen Gliedmaßen [2, 3]. So werden z. B. in Deutschland immer noch jedes Jahr etwa 25.000 diabetische Füße amputiert [9].

Neben einer guten konservativen Wundversorgung mit professioneller Wundreinigung (Débridement) und Wundauflagen werden Patientinnen und Patienten mit infizierten chronischen Wunden häufig auch mit Antibiotika behandelt oder diesen wird bei (starken) Schmerzen zur Einnahme von Schmerzmitteln geraten [3]. In bestimmten Situationen können auch weitere Behandlungen angezeigt sein, wie die sogenannte Vakuumversiegelungstherapie [10] oder die hyperbare Sauerstofftherapie [11]. Abseits dieser lokalen Therapiemöglichkeiten ist jedoch am wichtigsten die bestmögliche Behandlung der Grunderkrankung, die zur Entstehung der Wunde beigetragen hat [3].

Als innovative und „[w]irksame Therapie gegen chronische Wunden“ [12] ist die sogenannte Kaltplasmabehandlung seit einiger Zeit nicht nur ein häufig diskutierter Gegenstand in vielgelesenen Zeitungen und Zeitschriften [13, 14] sowie in beliebten Fernsehsendungen [12, 15, 16], sondern auch Objekt intensiver Bemühungen seitens der Medizinprodukteindustrie, diese neue Behandlungsmethode schnellstmöglich in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufzunehmen [17].

Was ist die Kaltplasmabehandlung?

Die Kaltplasmabehandlung wird in der medizinischen und wissenschaftlichen Literatur mit weiteren, unterschiedlichen Begriffen beschrieben, so mit kaltem Atmosphärendruckplasma, physikalischem Plasma oder Niedertemperaturplasma im deutschsprachigen oder mit Cold Atmospheric Pressure Plasma, Tissue Tolerable Plasma oder Nonthermal Plasma im englischsprachigen Raum [18].

Vereinfacht dargestellt erfolgt die Herstellung des Kaltplasmas durch die Anregung von Gasatomen bzw. ‐molekülen durch elektrische Energie. Dabei wird unterschieden zwischen der Erzeugung von Plasma mithilfe der Umgebungsluft, dem sogenannten direkten oder nicht berührungslosen Verfahren, oder von zusätzlich hinzugeführten Edelgasen, wie z. B. Argon, dem sogenannten indirekten oder berührungslosen Verfahren. Das erzeugte Plasma sieht aus wie eine kleine blaue Flamme. Es hat jedoch nie eine Temperatur von über 40° C. Kaltplasma bildet bei Kontakt mit der menschlichen Haut bzw. Wunde oder mit der Umgebungsluft Stoffe mit sehr großer chemischer Reaktionsbereitschaft (sogenannte reaktive Stickstoff- und Sauerstoffspezies) und sendet u. a. UV-Strahlung aus. Dies soll (multiresistente) Krankheitserreger, die die Wunde besiedeln, abtöten und die Wiederherstellung der zerstörten Haut anregen, was in der Fachwelt als Stimulation von Zellproliferation und Mikrozirkulation bezeichnet wird [18].

Eine Hand im OP-Handschuh legt einen Verband an einen Fuß

Die ersten Geräte zur Herstellung von Kaltplasma sind etwa seit dem Jahr 2013 auf dem Markt erhältlich [18]. Für die Herstellung von Kaltplasma können unterschiedliche Medizinprodukte von verschiedenen Herstellern zum Einsatz kommen. So gibt es neben nur stiftgroßen [19] oder pflasterartigen Produkten [20] für eher kleine chronische Wunden auch flächigere Geräte [21] zur Anwendung bei größeren Wunden. Je nach Fabrikat und Medizinproduktehersteller ist die Anwendung von Kaltplasma prinzipiell sowohl durch Ärztinnen und Ärzte sowie durch geschultes Fachpersonal in Arztpraxen (ambulanter Sektor) [19], in Krankenhäusern (stationärer Sektor) [20] und in Pflegeeinrichtungen möglich [21]. Eine allgemeingültige Aussage, wie häufig Kaltplasma bei Patientinnen und Patienten mit chronischen Wunden angewendet werden muss, damit diese geheilt werden, gibt es aktuell nicht. Wenige Hersteller machen diesbezüglich verbindliche Aussagen. Realistisch erscheinen gegenwärtig anscheinend etwa zehn Kaltplasmabehandlungen über einen Zeitraum von vier bis fünf Wochen, also zwei bis drei Anwendungen pro Woche [20].

Beratungsverfahren beim Gemeinsamen Bundesausschuss

Am 5. März 2021 stellte einer der vielen Hersteller eines der Produkte zur Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden einen Antrag auf Erprobung gemäß § 137e Absatz 7 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) beim G-BA. Der G-BA nahm diesen Antrag an und beschied der Behandlungsmethode am 15. Juli 2021 das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative. Gleichzeitig wurden Beratungen zu einer Erprobungs-Richtlinie eingeleitet. Zum 23. September 2021 holte der G-BA erste Einschätzungen zu der Methode in der Fachöffentlichkeit ein und begann mit der Ermittlung von Medizinprodukteherstellern, die Geräte zur Kaltplasmabehandlung herstellen. Das abschließende Stellungnahmeverfahren zu den vom G-BA formulierten Eckpunkten für eine Erprobungsstudie wurde etwa ein Jahr später, am 25. August 2022, begonnen und fand seinen Abschluss am 10. November 2022 mit der mündlichen Anhörung. Die daraufhin fertiggestellte Erprobungs-Richtlinie wurde am 16. Februar 2023 vom Plenum des G-BA verabschiedet [22]. Der G-BA wird nun zeitnah eine unabhängige wissenschaftliche Institution (UWI) mit der Durchführung der Erprobungsstudie beauftragen. Wie vom Gesetzgeber vorgegeben, soll diese Studie die Daten liefern, um eine abschließende Nutzenentscheidung für die Behandlungsmethode Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden durch den G-BA zu ermöglichen [23]. Die in der Richtlinie formulierten Eckpunkte für eine Erprobungsstudie [24] sind so gestaltet, dass sie es der UWI ermöglichen, eine verhältnismäßig pragmatische klinische Studie durchzuführen.

Was sind pragmatische klinische Studien…

Klassische randomisiert kontrollierte klinische Studien (Randomized Controlled Trial; RCT) gelten nach wie vor als Goldstandard für eine bestmögliche Evidenzgenerierung. Im Rahmen von „einfachen“ Fragestellungen, bei denen zum Beispiel die zu behandelnde (Grund-)Erkrankung (Population), die neue Behandlungsmethode (Intervention), die bisherige Versorgung (Vergleichsbehandlung [Comparison]) und die patientenrelevanten Vorteile (Outcome), also das sogenannte PICO-Schema der neuen Methode klar und eindeutig beschrieben werden können, ist dies eigentlich recht problemlos möglich [25]. In den Unterlagen, die dem G-BA bspw. bei Anträgen auf Erprobung gemäß § 137e Absatz 7 SGB V vorgelegt werden, finden sich häufig erst gar keine RCT oder oft werden auch Studien mit einem falschen Vergleich, wie lediglich einer Scheinbehandlung (Placebo) bei eigentlich vorhandener, angemessener Vergleichsintervention, oder mit Endpunkten, die nicht patientenrelevant sind, vorgelegt. Darauf wurde an anderer Stelle bereits ausführlich hingewiesen [26]. In diesem Zusammenhang wird dem G-BA oft auch vorgeworfen, seine (Evidenz-)Anforderungen für die Anerkennung des Nutzens einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode seien zu hoch und Studien, die diese erfüllten, wären in Deutschland nicht durchführbar.

Verkannt wird bei diesen Vorwürfen zumeist, dass ein Nachweis der Wirksamkeit (Efficacy) keineswegs mit einem tatsächlichen Nutzen gleichgesetzt werden darf. Andere Kritiker wiederum bemängeln, dass sich Studienergebnisse von klassischen, explanatorischen RCT häufig nicht auf den realen Alltag eines Gesundheitssystems (voll) übertragen lassen oder in der ambulanten und/oder stationären Praxis irrelevant sind. Hier stehen dann Forderungen nach einer stärkeren Verbindung zwischen Ergebnissicherheit und Alltagsnähe im Vordergrund [27].

Insbesondere im anglo-amerikanischen Raum hat resultierend aus diesen Kritikpunkten ein Studientyp Einzug gehalten, der unter den relativ synonymen Begrifflichkeiten Pragmatic Clinical Trial [27], Practical Clinical Trial [28] oder Real World Trial [29] sowie - wenn auch noch ziemlich selten - im deutschsprachigen Raum als pragmatische klinische Studie firmiert.

Diese pragmatischen Studien haben laut Befürwortern den Vorteil, dass sie die Untersuchung von komplexeren Sachverhalten ermöglichen und das klassische (klinische) Setting mit seinen optimalen Studienbedingungen verlassen. Durch die Durchführung einer Studie unter Alltagsbedingungen können somit der tatsächliche Nutzen und die potenziellen Schäden von neuen Methoden geprüft werden, die in herkömmlichen klinischen Studien meist über- bzw. unterschätzt werden. Wichtig hervorzuheben ist, dass pragmatisch keineswegs gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf eine Randomisierung: Vielmehr ist diese stets im Sinne einer Pragmatic Randomized Controlled Trial durchzuführen, denn auch bei eher pragmatischen Ansätzen sollte ein Vergleich immer anhand von Gruppen mit ähnlichen Merkmalen erfolgen [27].

Mit dem von Thorpe et al. 2009 [30] erstmalig formulierten und 2015 von Loudon et al. [31] aktualisierten sogenannten PRECIS-Tool (Pragmatic-Explanatory Continuum Indicator Summary) kann das „Konzept Pragmatismus“ anhand von neun Kategorien beschrieben werden. Diesen neun Kategorien können Punktwerte von eins bis fünf zugeordnet werden, wobei gilt: je höher der Punktwert, desto pragmatischer die Studie [31]. Da sich dieser Artikel auf die Erprobungs-Richtlinie des G-BA bezieht und nicht auf die tatsächliche Studie, bleiben die Darstellungen global auf Ebene der Kategorien.

Stark vereinfachter Vergleich anhand von Beispielen der explanatorischen und pragmatischen Gesichtspunkte der neun Kategorien des PRECIS-Tools nach 31 sowie in Anlehnung an die Ausführungen von 30, 32-34. Die hervorgehobenen Kästchen entsprechen aus Sicht des Autors den Anforderungen an die Erprobungsstudie, die sich aus der Richtlinie zur Erprobung der Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden ergeben.

Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • eng gefasste Einschlusskriterien
  • viele Ausschlusskriterien (z. B. Alter, Geschlecht, Komorbiditäten, erwartbar schlechte Compliance, Sprachbarrieren)
  • weit gefasste Einschlusskriterien
  • sehr wenige Ausschlusskriterien (z. B. ethische Gründe wie Minderjährigkeit, Schwangerschaft oder geistige Beeinträchtigungen)
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • hoher Rekrutierungsaufwand, da sehr eng abgegrenztes Studiensetting
  • „Werbemaßnahmen“ zur Studienteilnahme (z. B. Rundschreiben durch Krankenkassen oder Plakatierungsaktionen in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Probandengewinnung)
  • geringer Rekrutierungsaufwand, da Studiensetting analog zur Regelversorgung
  • keine „Werbemaßnahmen“, sondern Gewinnung der Probanden im routinemäßigen Praxisalltag
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • homogene Studienpopulation
  • mono- oder auch multizentrische Studienbedingungen
  • Vergleichsintervention genau definiert oder Placebo
  • heterogene Studienpopulation
  • multizentrische, größtmögliche Alltagsbedingungen
  • Vergleichsintervention ist Regelversorgung
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • niedrigere Studienkosten, da z. B. weniger Studienzentren oder geringere Fallzahl
  • viele Zusatzaufwände (z. B. zusätzliches oder anderes, speziell geschultes Personal zur Studiendurchführung)
  • höhere Studienkosten, da z. B. mehr Studienzentren und höhere Fallzahl
  • wenig Zusatzaufwände (z. B. da Durchführung im Rahmen des Praxis- und Klinikalltags möglich ist)
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • Intervention(en) im Studienprotokoll streng vorgeschrieben
  • strikte Einhaltung des mit strengen Vorgaben und Anweisungen vorgesehenen Protokolls
  • Intervention(en) im Studienprotokoll nicht streng vorgeschrieben
  • flexiblere Modalitäten
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • Durchführung von Maßnahmen zur Steigerung der Compliance bzw. Adhärenz von Probanden (z. B. Erinnerungsanrufe, E-Mail-Reminder)
  • vollständiger Verzicht auf Maßnahmen zur Steigerung der Compliance bzw. Adhärenz
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • strikte Vorgabe von Anzahl und Intervallen der Follow-up-Termine durch das Studienprotokoll
  • Follow-up-Termine analog zu üblichen (Nachsorge-)Terminen der Regelversorgung
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • Endpunkte eher von „Forschungsrelevanz“
  • häufig Surrogatendpunkte
  • Endpunkte mit größtmöglicher Patientenrelevanz
  • häufig Mortalität, Morbidität oder Lebensqualität
Explanatorische (klassische) Studie Pragmatische Studie
  • umfangreiche, interventionsbezogene Datenerhebung
  • minimal zusätzlich notwendige Datenerfassung
  • bestenfalls Nutzung administrativer Daten (z. B. Routinedaten von Krankenkassen) oder Daten aus der klinischen Routine ohne direkten (zusätzlichen) Kontakt mit allen Studienteilnehmenden

Wie die gefetteten Kästchen in der Vergleichsübersicht suggerieren, hat die UWI bei der Erstellung und Durchführung der Erprobungsstudie zur Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden an vielen Stellen die Möglichkeit, pragmatische Ansätze zu verfolgen, da der G-BA seine Anforderungen an die Studie in der Richtlinie zur Erprobung der Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden entsprechend ebenso pragmatisch formuliert hat [24], worauf nachfolgend exemplarisch anhand dreier PRECIS-Kategorien näher eingegangen werden soll.

… und wie „pragmatisch“ kann die Erprobungsstudie des G-BA zur Kaltplasmabehandlung werden?

Aus Sicht des Autors kann die Studie, die aus der Richtlinie zur Erprobung der Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden resultiert, in fünf der neun PRECIS-Kategorien unter verhältnismäßig pragmatischen Gesichtspunkten geplant werden, so u. a. hinsichtlich der Einschlusskriterien, des Studiensettings und des primären Endpunkts. Eine Einschätzung der Kategorie „Compliance der Teilnehmenden“ kann auf Basis der Richtlinie nicht erfolgen.

In § 3 (Population) der Erprobungs-Richtlinie gibt der G-BA der UWI explizit keine einschränkenden Ein- und Ausschlusskriterien vor. Vielmehr werden dieser weite Freiräume bei der Ausgestaltung der Studie eingeräumt. So gibt der G-BA weder Alter oder Komorbiditäten vor noch schränkt er die Art der chronischen Wunde sowie die sie verursachende Grunderkrankungen ein. Entsprechend heterogen kann letztlich die Studienpopulation ausfallen – also ganz so, wie es auch später in der klinischen Routine bei den entsprechenden Leistungserbringenden die Regel wäre. Mit Blick auf die weiter oben beschriebene Verschiedenartigkeit der chronischen Wunden und der ihnen zugrundeliegenden Erkrankungen ein sicherlich sinnvolles Vorgehen. Dadurch, dass der G-BA keine Vorgabe macht, in welchem Studiensetting, also ob in der Arztpraxis oder im Krankenhaus, die Studie stattzufinden hat und ob zwingend eine Ärztin oder ein Arzt die Behandlung mit Kaltplasma durchführen muss oder aber dies auch eine Pflegekraft unter Aufsicht machen kann, ist eine Überprüfung der Kaltplasmabehandlung unter den größtmöglichen Alltagsbedingungen, also analog zur Regelversorgung, möglich. Gleiches gilt auch für die Art der Plasmaerzeugung – sprich dafür, welches Gerät von welchem Hersteller zum Einsatz kommt. Da der G-BA keine Produkte, sondern ausschließlich Methoden bewertet, ist dies in der Richtlinie bewusst offengehalten (§ 4 Intervention und Vergleichsintervention). Will die UWI auch hier eine pragmatische Studie durchführen, so überlässt sie die Wahl des Kaltplasmagerätes den zu rekrutierenden, an der Studie teilnehmenden Leistungserbringenden und macht diesbezüglich selbst keine Vorgaben. Auch der primäre Endpunkt (§5) Wundheilungserfolg im Sinne einer vollständigen Wundheilung ohne sichtbares Granulationsgewebe ist pragmatisch gewählt und im Vergleich zu allen bisher vorliegenden Erkenntnissen zur Methode auch tatsächlich von größtmöglicher Patientenrelevanz: So zeigen zwar bspw. die Studien Stratmann et al. (2020) [35] oder Mirpour et al. (2020) [36] vorteilhafte Effekte der Kaltplasmatherapie im Vergleich zur Standard-Wundversorgung in Bezug auf die Veränderung der Wundfläche. Jedoch stellt die Wundflächenverkleinerung allenfalls einen Surrogatendpunkt dar, der für eine Systementscheidung nicht herangezogen werden kann (und darf). Pragmatisch und patientenrelevant zugleich ist nur die vollständige Wundheilung, wie es auch in hochwertigen Leitlinien [2] empfohlen wird, oder zuletzt auch vom Unparteiischen Vorsitzenden des G-BA Josef Hecken in der 112. öffentlichen Sitzung des Plenums des G-BA am 16. Februar 2023 nochmals eindrücklich betont wurde (abrufbar auf der Homepage des G-BA [37]).

Ausblick

Seit Februar 2022 gibt es eine erste deutsche Leitlinie zum rationalen therapeutischen Einsatz von kaltem physikalischem Plasma. [18] Diese ist jedoch nur eine sogenannte S2k-Leitlinie, d. h. die dort getätigten Empfehlungen beruhen lediglich auf dem aktuellen Stand von Grundlagenforschungsaktivitäten und auf einem Expertenkonsens. Die Ergebnisse der Studie, die aus der Erprobungs-Richtlinie des G-BA resultieren, werden es im besten Fall ermöglichen können, diese Leitlinie auf Basis eines hochwertigen wissenschaftlichen Nachweises (Evidenz) entscheidend weiterzuentwickeln. Durch den verhältnismäßig pragmatischen Ansatz, den – wie vorangestellt dargelegt - der G-BA bei der Formulierung seiner Richtlinie zur Erprobung der Kaltplasmabehandlung bei chronischen Wunden verfolgt hat, ist ein guter Grundstein gelegt, dass zügig mit dem Beginn und mit einem erfolgreichen Abschluss der Erprobungsstudie gerechnet werden kann. Wie ein Blick in die zusammenfassende Dokumentation [38] über die Erprobung-Richtlinie zur Kaltplasmabehandlung nahelegt, ist sowohl seitens einschlägiger medizinischer Gesellschaften und der Fachöffentlichkeit als auch seitens der Medizinprodukteindustrie ein sehr großes Interesse an der Erprobung der Kaltplasmabehandlung vorhanden, sodass auch hier mit einer großen Unterstützung einer bestmöglichen Studiendurchführung zu rechnen ist. Mit Vorliegen der Ergebnisse dieser Studie wird sich dann auch zeigen, ob die Kaltplasmabehandlung die vielen Versprechungen der Hersteller einhalten kann, mit denen aktuell offensiv geworben wird, oder ob sich diese – wie leider viel zu häufig – größtenteils nicht erfüllen werden.

Literatur

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Über den Autor

Dr. Nick Bertram

Dr. Nick Bertram ist Fachreferent im Referat Methodenbewertung der Abteilung Medizin beim GKV-Spitzenverband.

Seine Schwerpunktthemen sind die Erprobungsregeln beim Gemeinsamen Bundesausschuss, Hochrisikomedizinprodukte im Krankenhaus und die Bewertung (neuer) Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden.

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