Stationäre Versorgung

Ein Autorenbeitrag von Dr. Philipp Storz-Pfennig und Dr. Nick Bertram

Verringerung der Zahl potenziell problematischer Eingriffe während der Corona-Pandemie?

Exploration und Spurensuche

Februar 2023

Die gesundheitspolitische Debatte zu Auswirkungen der Pandemie auf die Versorgung geht ganz überwiegend davon aus, dass unter dem Einfluss der Corona-Pandemie viele nützliche und notwendige medizinische Maßnahmen und Eingriffe entfallen sind oder verschoben wurden. Noch kaum diskutiert wird, ob auch solche Eingriffe unterblieben sind, die der Über- und Fehlversorgung zuzurechnen wären. Gibt es vielleicht ein unausgesprochenes Bewusstsein, in einer Krisensituation auf solche Eingriffe eher zu verzichten als auf andere? Auf der Grundlage einer Datenanalyse zu Eingriffen in Krankenhäusern während der Pandemie ab 2020 und im Vergleich zu 2019 versuchen wir, Antworten auf diese Frage näherzukommen. Unter dem Eindruck der gegenwärtigen Krisenwahrnehmung versuchen wir daraufhin auch, den Beitrag einer nutzen- und bedarfsorientierten Medizin, über ökonomische Steuerungsansätze hinaus, im Sinne der Stärkung einer auf Effektivität und Effizienz ausgerichteten Versorgungsgestaltung zu skizzieren. Ausgehend von der gegenwärtigen Situation scheint dies in absehbarer Zukunft mehr denn je notwendig.

Inhalt

Seit dem Frühjahr 2020 stellte die Corona-Pandemie die Versorgung vor große, wechselnde und teilweise auch dramatische Herausforderungen. Dies betraf, über die Behandlung der Corona-Erkrankungen hinaus, auch die Versorgung bei allen anderen Erkrankungen, wenn auch in bestimmten Zeiträumen und Regionen sicherlich in sehr unterschiedlicher Art und Intensität. Aufgrund von infektionspräventiven Bestimmungen und Verhaltensänderungen haben sich zum Teil sowohl die Nachfrage bzw. Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen als auch das Angebot bzw. die Realisierung von Behandlungsmöglichkeiten zumindest vorübergehend erheblich geändert und reduziert. Dafür waren sowohl Infektionsrisiken bei medizinischen Behandlungen – oder jedenfalls diesbezügliche Sorgen - als auch angespannte bzw. eingeschränkt verfügbare Behandlungskapazitäten verantwortlich, und dies gilt insbesondere auch im Krankenhausbereich.

Verschobene, entfallene, veränderte Behandlung …

Inzwischen liegt eine wachsende Zahl von Publikationen aus Deutschland vor, die die Veränderungen und insbesondere den Rückgang des Leistungsgeschehens während der Pandemie u. a. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, onkologischen Erkrankungen oder auch krankheitsübergreifend untersucht haben (Scheidt-Nave et al., 2020; Busse, 2022; Deutsche Herzstiftung, 2022; Heidemann et al., 2022; Klauber et al., 2022). Die Literatur zu solchen Analysen, die hier nur kursorisch und ausschnitthaft skizziert werden kann, wird zukünftig vermutlich noch weiter wachsen. Generell und überwiegend wird hier mit gesundheitlichen Verlusten, wahrscheinlich erhöhter Morbidität oder Mortalität, gerechnet, sofern als selbstverständlich nützlich und bedarfsorientiert angesehene Behandlungen unter dem Druck der Pandemie entfallen sind oder zumindest erheblich verschoben wurden. Ggf. wurden auch alternativ andere Behandlungsverfahren eingesetzt, z. B. die Substitution von Chirurgie durch Strahlentherapie. Denkbar erscheint auch, dass manche Behandlungen häufiger in ambulanten Settings durchgeführt wurden (ggf. auch unter Verzicht auf invasive Prozeduren) - zur Schonung von Krankenhauskapazitäten oder um bestimmte Infektionsrisiken zu reduzieren.

… auch bei potenziell problematischen Eingriffen? - Exploration mit Versorgungsdaten

Es ist zunächst offen und in den oben genannten Beiträgen auch nicht wesentlich thematisiert (international aber durchaus, z. B. bei Moynihan et al., 2020), ob und in welchem Umfang auch Behandlungen zeitlich verschoben wurden oder entfallen sind, bei denen gesundheitliche Verluste nicht unbedingt erwartet werden müssen – denn es kann in der Versorgungspraxis nicht ohne Weiteres von einer durchgängig evidenzbasierten und bedarfsgerechten Versorgung ausgegangen werden. Vielmehr ist zu vermuten, dass auch Fehl- und Überversorgung anzutreffen sind. Häufig werden insbesondere bestimmte planbare bzw. elektive Eingriffe genannt, bei denen die Gefahr der Überversorgung besteht, d. h. dass durchgeführte Eingriffe unnötig oder unwirksam sind bzw. diese Patientinnen und Patienten sogar mehr schaden als nutzen – was sowohl international als auch in Deutschland bereits lange, intensiv und unter verschiedenen Aspekten diskutiert wurde (z. B. bei Chassin et al., 1998; Korenstein et al., 2012; Lawson et al., 2012; OECD, 2014; Bertelsmann-Stiftung, 2019; BMJ, ohne Datum).

Wir haben uns daher die Frage gestellt, wie sich die Zahlen solcher Eingriffe unter dem Einfluss der Pandemie in Deutschland verändert haben und ob Unterschiede zu anderen Eingriffen erkennbar sind. Relevant erscheint insbesondere die Frage, ob der Rückgang solcher fraglichen, potenziell problematischen Eingriffe ausgeprägter war als der bei anderen Behandlungen im Krankenhaus. Vor diesem Hintergrund haben wir eine Übersichtsarbeit aus Deutschland zu fraglichen Eingriffen, die vorwiegend im Krankenhaus durchgeführt werden, herangezogen (IQWiG, 2021). Letztere Arbeit enthält mögliche, für die Zweitmeinung infrage kommende Eingriffe, bei denen nach den Vorgaben des Gesetzgebers in § 27b SGB V eine „Mengenanfälligkeit“ im Sinne einer möglichen Überversorgung angenommen werden kann. Zudem haben wir die bereits für eine Zweitmeinung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vorgesehenen Eingriffe einbezogen (G-BA, 2022). Wir hatten diese Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und den Kontext solcher Betrachtungen unabhängig von der Pandemie bereits ausführlicher in einem früheren Beitrag dargestellt (Storz-Pfennig, 2021).

Grundlage der aktuellen Analyse sind Daten zu Krankenhausleistungen, die mit Hilfe des Datenbrowsers des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus im Herbst 2022 abgefragt wurden. Sie liegen in hoher zeitlicher und inhaltlicher Auflösung (insbesondere einzelne Prozeduren und Diagnosen bzw. Gruppen) öffentlich verfügbar vor. Es wurden für alle einbezogenen Eingriffe jeweils die monatlichen Fallzahlen (Aufnahmedatum) des Jahres 2019 (vor der Pandemie) mit den Fallzahlen des jeweils gleichen Kalendermonates in den Jahren 2020, 2021 und 2022 (bis März) ins Verhältnis gesetzt. Dies ermöglicht einen einfachen Blick auf Änderungen, die nicht von unterjährigen saisonalen Schwankungen abhängen. Mehrjährige zeitliche Trends sind dabei allerdings nicht berücksichtigt (Abbildung 1).

Abbildung 1 zeigt eine Tabelle, die für jeden Eingriff eine Zeile enthält sowie eine zusätzliche Zeile für alle Krankenhausfälle. Sie enthält Spalten für jeden Kalendermonat ab Januar 2020 bis einschließlich März 2022. Die Zahlenwerte der einzelnen Zellen sind jeweils der Quotient der Fallzahlen (des jeweiligen Eingriffs) in dem jeweiligen Monat und der Fallzahl im selben Kalendermonat 2019. So ist zum Beispiel in Bezug auf den Eingriff „Hüftgelenkersatz“ der Wert für April 2020 (in der ersten Welle der Corona-Pandemie) 0,53, das heißt, in diesem Monat wurden nur 53 % der Eingriffe durchgeführt, die im April 2019 durchgeführt worden waren. In der ersten Pandemiewelle sowie häufig auch in den weiteren Pandemiewellen im Winter 2020/2021 sowie im Winter 2021/2022 liegen die Werte für nahezu alle Eingriffe unter 1. Eine Ausnahme bilden die Kaiserschnitte. Besonders in den Phasen zwischen den einzelnen Pandemiewellen (im Sommer 2020 und im Sommer 2021) sind jedoch für die meisten Eingriffe auch Werte um 1 oder über 1 teilweise zu erkennen, zum Beispiel ist der Wert für Hüftgelenksersatzeingriffe im Juni 2020 1,16, das heißt, es wurden 16 % mehr Eingriffe als im Juni 2019 durchgeführt. Während dieses generelle Muster für viele Eingriffe zutrifft, gibt es auch Eingriffe, bei denen die Werte im gesamten Betrachtungszeitraum unter 1 liegen, zum Beispiel bei Mandeloperationen. Es gibt ebenso auch Eingriffe, bei denen die Werte für alle Monate im Betrachtungszeitraum kaum von 1 abweichen, bei denen also kaum ein Unterschied zum Vergleichszeitraum 2019 erkennbar ist, zum Beispiel bei Amputationen am Fuß oder bei Kaiserschnitten. Für die zum Vergleich angegebenen Zahlen in Bezug auf alle Krankenhausfälle gilt, dass auch hier die Pandemiewellen klar sichtbar sind und die Relation zu 2019 dann deutlich unter 1 liegt (zum Beispiel 0,65 im April 2020). Allerdings sind hier keine Relationen erkennbar, die 1 erreichen oder über 1 hinausgehen (der höchste Werte ist hier 0,98 im Juni 2021), sodass für jeden Monat des Betrachtungszeitraums im Vergleich zu 2019 weniger Fälle verzeichnet werden.

Die einzelnen Pandemiephasen sind, insbesondere bezogen auf das Frühjahr 2020 („Erste Welle“) und den Winter 2020/2021 („Zweite Welle“) gut erkennbar (eine differenzierte Darstellung der Pandemiephasen durch das Robert Koch-Institut findet sich bei Tolksdorf et al. (2022). Es sind sowohl für alle Krankenhausfälle als auch ganz überwiegend für die betrachteten einzelnen Eingriffe teilweise gravierende Rückgänge offensichtlich. Während die einzelnen Eingriffe untereinander erhebliche Unterschiede im Ausmaß der Rückgänge zeigen, ist der Verlauf der Fallzahlentwicklung insgesamt durchaus ähnlich. Sonderfälle sind wohl die Eingriffe an Trommelfell, Nase und Mandeln, hierzu werden im Folgenden gesonderte Erläuterungen gegeben. Auch Kaiserschnitte, bei denen keine wesentlichen Veränderungen erkennbar sind, stellen wohl einen Sonderfall dar, u. a., weil sie naturgemäß primär von der Anzahl der Geburten abhängen.

Die Intensität der zeitlichen Entwicklung ist jedoch auch abseits dieser Sonderfälle unterschiedlich. So sind z. B. bei Amputationen am Fuß, häufig aufgrund einer Diabeteserkrankung („Diabetischer Fuß“) oder aufgrund einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit, in der Regel das allerletzte Mittel der Therapie. Seit geraumer Zeit wird hier versucht, die Zahl der Amputationen zu senken. Der relativ gleichförmige Verlauf der Fallzahlen deutet hier darauf hin, dass Amputationen tatsächlich eher nur dann durchgeführt werden, wenn sie unvermeidlich sind. Probleme sind hier ggf. im Hinblick auf die Versorgungslage zu diskutieren, die erst zur Amputationsindikation geführt hat.

Für eine Reihe anderer Eingriffe (z. B. Knie- und Hüftgelenkersatz, Prostatektomien) sind, nach Rückgängen, begrenzte Steigerungen in den Sommermonaten 2020 und 2021 gegenüber 2019 erkennbar. Hier ist insbesondere denkbar, das verschobene Eingriffe nachgeholt wurden. Beim orthopädischen Gelenkersatz, der ja immer wieder auch Diskussionen über die richtige Indikationsstellung ausgelöst hat, wird man häufig davon ausgehen können, dass dieser im Zweifelsfalls auch als verschiebbar angesehen wurde, da hier im Allgemeinen eine chronische Entwicklung zugrunde liegt. Auch bei der Prostatektomie, der Entfernung der Prostata häufig aufgrund eines Prostatakarzinoms, kann dies teilweise der Fall sein, abhängig vom Stadium und anderen Erkrankungscharakteristiken. Zudem sind hier ggf. alternative Behandlungsverfahren (aktive Überwachung, Strahlentherapie) verfügbar, bei allerdings - leider - ungenügender Klarheit in Bezug auf die vergleichende Evidenzlage.

Die deutlichsten „Nachholeffekte“ sind bei der bariatrischen Chirurgie (Magenoperationen bei sehr ausgeprägter Adipositas), bei Eingriffen an den Herzklappen und bei elektrophysiologischen Untersuchungen und Ablationen am Herzen erkennbar. In Bezug auf die Eingriffe am Magen ist eine besonders strenge Indikationsstellung erforderlich aufgrund der weitreichenden Folgen und eines Eingriffes an einem im Grunde gesunden Organ. Die Eingriffe an den Herzklappen und Ablationen stellen Felder dar, auf denen in den vergangenen Jahren viele technische Neuerungen entwickelt wurden, die hier teilweise das Tätigwerden wohl erheblich erweitert haben. Unter dem Einfluss des sogenannten Verbotsvorbehaltes in der Krankenhausversorgung – also der, auch kritikwürdigen, Möglichkeit, alle Neuerungen schnell auch ohne vorherige, systematische Bewertung und Prüfung in die Versorgung zu bringen – kann hier die Evidenzbasis zum Teil auch lückenhaft und fraglich sein. Es ist allerdings aufgrund der hier genutzten Daten nicht interpretierbar, warum bei diesen Eingriffen ein „Nachholeffekt“ vergleichsweise ausgeprägt erscheint.

Erkennbar sind somit solche Ansätze zu „Nachholeffekten“ bei einigen Eingriffen, insbesondere in den Sommermonaten Juni 2020 und 2021 sowie im März 2022. Sie erreichen allerdings insgesamt nicht annähernd ein Ausmaß, das die Rückgänge in den jeweiligen vorangegangenen Pandemiewellen kompensieren könnte (s. Abbildung 2).

Abbildung 2 zeigt die monatlichen Fallzahlen 2020 bis März 2022 und Fallzahlen des jeweils gleichen Kalendermonats 2019 für Fälle mit einbezogenen Eingriffen und die kumulierte (fortlaufend über die Monate summierte) Differenz der Fallzahlen gegenüber 2019.

Insgesamt werden über den gesamten Zeitraum der Betrachtung, legt man das Jahr 2019 für die zu erwartende Fallzahl in den Folgejahren zugrunde, im Zeitverlauf immer weiter erhöhte Differenzen sichtbar. So lag die kumulierte Zahl der Eingriffe im Beobachtungszeitraum unter Pandemiebedingungen bis März 2022 insgesamt um knapp 800.000 niedriger als im Vergleichszeitraum vor der Pandemie. In den Phasen zwischen den Infektionswellen erreichen die Fallzahlen in Bezug auf die Eingriffe (in der Summe) zum Teil zwar ähnliche Größenordnungen wie im jeweiligen Kalendermonat 2019, aber nur in zwei Monaten (jeweils im Juni 2020 und 2021) liegen sie etwas über den Vergleichswerten von 2019. Sicherlich sind dabei auch Kapazitätsgrenzen von Bedeutung, die ein unmittelbares Nachholen vielleicht kaum möglich erscheinen lassen, nicht zuletzt da Pandemiebedingungen und –folgen nach den akuten Wellen auch teilweise fortbestanden haben.

Es sei darauf hingewiesen, dass hier generell nicht zwischen vielleicht bei bestimmten Patientinnen und Patienten nachgeholten Eingriffen und zwischen vielleicht vermehrt oder wieder ähnlich häufig durchgeführten Eingriffen zu einem späteren Zeitpunkt bei ganz anderen Patientinnen oder Patienten unterschieden werden kann. Es handelt sich hier nicht um eine echte Längsschnittbetrachtung, sondern um eine zeitliche Reihung von querschnittlichen Zählungen. Die Nutzung des einfachen Vergleichs zum Jahr 2019, bezogen auf Kalendermonate, gleicht zwar die saisonalen Schwankungen aus. Es sind aber auch deutliche Grenzen der Aussagekraft dieser Beobachtungen zu bedenken. Einerseits besteht eine Abhängigkeit von nur einem Referenzjahr (2019), da weitere Vorjahre in der Datenquelle nicht verfügbar waren. Andererseits würde deren Einbeziehung jedoch auch einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor noch erhöhen, der auch in der vorliegenden Form zu bedenken ist: Mit weiterer zeitlicher Entfernung (z. B. im Jahr 2022 oder später) verliert der zeitliche Bezug auf 2019 immer mehr an Bedeutung. Die „Hochrechnung“ einer immer größeren Zahl von „verpassten“ Eingriffen wird dadurch auch deutlich weniger zuverlässig. Ohnehin handelt es sich um die Zusammenfassung von im Einzelnen dann auch recht unterschiedlichen Verläufen (s. Abbildung 1). Zudem wurde bei einigen der hier diskutieren Eingriffe auch schon in den Vorjahren ein Rückgang verzeichnet (z. B. bei koronaren Bypass-Operationen), sodass die weitere Entwicklung in solchen Fällen auch als Ausdruck eines vorherbestehenden „Trends“ interpretiert werden könnte.

Nach Erkrankungen differenzierte Erklärungsansätze zu einzelnen Eingriffen

In einem weiteren Analyseschritt wurden Eingriffe nach der Hauptdiagnose, die zu dem Krankenhausfall angegeben ist, unterschieden. Das exemplarische Ergebnis für Eingriffe an den Koronararterien zeigt Abbildung 3.

Abbildung 3 zeigt 3 Graphen. Die dargestellte Zeit sind die Monate in den Jahren 2020, 2021 und das 1. Halbjahr 2022. Die Graphen zeigen für jeden Monat die relative Zahl der Fälle mit Eingriff bei den drei Diagnosen, Angina Pectoris, akuter Myokardinfarkt und chronische ischämische Herzkrankheit im Vergleich zum selben Monat im Jahr 2019. Die Graphen bewegen sich außer in einzelnen Monaten immer unter Null.

Die Rückgänge waren insgesamt bei weniger akuten und gravierenden Anlässen (Chronische ischämische Herzkrankheit) für die Behandlung besonders in der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 deutlich stärker ausgeprägt als bei gravierenderen, akuten Anlässen wie beim akuten Myokardinfarkt. Ähnliches zeigt sich beispielsweise auch bei Eingriffen an der Gebärmutter: Die Rückgänge sind, wenn es sich um Eingriffe wegen gutartiger Myome handelt, deutlich stärker als bei Krebserkrankungen. In Bezug auf die Eingriffe an den Koronararterien deutet sich allerdings auch an, dass in einer dritten Infektionswelle (bis etwa Mai 2021) die erneut deutlichen Rückgänge hier keine Differenzierung nach Hauptdiagnosen mehr erkennen lassen.

Auffällig sind die auch zwischen akuten Pandemiephasen bestehen bleibenden erheblichen Rückgänge bei Eingriffen am Trommelfell, an der Nase und bei Mandeloperationen (s. Abbildung 1). Sie bilden hier eher Sonderfälle, da sie durch Morbiditätsveränderung in der Pandemie begründet sein könnten. Plausibel erscheint einerseits, dass die besondere Infektionsgefahr bei Eingriffen an bzw. nahe den Atmungsorganen hier auch zu besonderer Zurückhaltung aufseiten der Operateurinnen und Operateure geführt hat. Denkbar ist andererseits, dass auch eine verringerte Zahl von Infektionen aufgetreten ist, die hier oft die Grundlage für Eingriffe bildet. Es könnten auch beide Faktoren von Bedeutung sein. Auf Basis der vorliegenden Datengrundlage ist eine weitere Aufklärung allerdings nicht zuverlässig möglich.

Nicht für alle Eingriffe lassen sich interpretierbare Ergebnisse auf der Grundlage der hier angestellten Analyse gewinnen. Es sind auch nicht alle Schwankungen gut interpretierbar. Hier werden die Grenzen der Betrachtung deutlich, die weder auf eine längsschnittlichen Beobachtung von Versorgungsverläufen noch z. B. auf regionale Unterschiede und Heterogenität eingeht. Auch mögliche Substitutionen z. B. durch ambulant durchgeführte Behandlungen, in Bezug auf einige Eingriffe ggf. relevant, sind hier nicht berücksichtigt. Die gilt sowohl für die hier nach Hauptdiagnosen differenzierte Betrachtung als auch für die oben skizzierten Interpretationsansätze zu Verläufen von in Abbildung 1 dargestellten Eingriffen.

Was ist insgesamt zu erkennen und zu folgern?

In der Gesamtsicht ist die leitende Frage, ob auf „fragliche“ Eingriffe in höherem Maße verzichtet wurde als auf die übrigen Eingriffe, eher mit „Nein“ zu beantworten. Vorsichtiger ausgedrückt: Es finden sich darauf nur wenige Hinweise in den hier betrachteten Daten. Deutlich wird dies auch, wenn man den Verlauf der Fallzahlen in Bezug auf Trommelfell- oder Mandeleingriffe mit anderen Verläufen vergleicht. Bei ersteren ist die Reduktion nicht nur erheblich, sondern auch andauernd. Zwar ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass dies auch auf einem Bewusstsein der Fraglichkeit der Eingriffe beruht. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Morbiditätsfaktoren oder eine besondere Sorge vor Infektionen seitens der Operateurinnen und Operateure bei „aerosolgenerierenden Prozeduren“ hier zugrunde liegen.

Es erscheint auch plausibel anzunehmen, dass der vorübergehende Verzicht auf einen Eingriff stärker der als geringer angesehenen Dringlichkeit der Behandlung als der wahrgenommenen Unsicherheit der Nutzenerwartung geschuldet ist. Dabei stehen die Aspekte der Dringlichkeit der Behandlung einer Erkrankung, das Ausmaß der befürchteten Folgen, die Planbarkeit (die Charakterisierung als „elektiv“) und die Gewissheit über Nutzen und die Befürchtungen von Schäden in keinem einfachen Verhältnis. Es wäre ja auch abwegig, wollte man alle Eingriffe, die hier besprochen und umfasst sind, grundsätzlich anzweifeln. Die Bezeichnungen als „potenziell problematisch“ und „fragwürdig“ verweisen insofern auch lediglich darauf, dass es Bereiche und Fallkonstellationen gibt, für die diese Zweifel formuliert werden und dass dies häufiger der Fall ist, wenn es sich um längerfristig Planbares handelt. Umgekehrt sollte man sich aber auch davor hüten, alleine aufgrund der Dringlichkeit der Behandlung einer gravierenden, akuten Erkrankung auf die Tauglichkeit eines Mittels zu deren Behandlung zu schließen. Schließlich handelt es sich bei der hier verwendeten Liste zwar um eine nachvollziehbare Erarbeitung aufgrund vorliegender Literatur und zusätzlicher Datenanalysen. Es ist aber auch nicht unwahrscheinlich, dass es in Gruppen von Eingriffen, die hier gar nicht als fraglich aufgeführt sind, ebenfalls Fallkonstellationen gibt, bei denen der Eingriff vielleicht besser unterblieben wäre.

Letztlich stellt sich natürlich die Frage, welche Verbesserungen oder Verschlimmerungen in Bezug auf Morbidität, Mortalität und Lebensqualität aufgrund der Durchführung welcher Eingriffe, wann und bei wem eintreten. Dies im Kontext der generellen Frage nach dem Anteil der Gesundheitsversorgung am (auch) gesundheitlichen Wohlergehen bevölkerungsbezogen zu beantworten, ist notorisch und begreiflich schwierig, da viele Faktoren einwirken. Herauszufinden, welche Folgen durch die Reduktion und Veränderungen der Gesundheitsleistungen in der Pandemie hier resultieren, wird die Wissenschaft vermutlich noch lange und intensiv beschäftigen. Dass hieraus klare Ergebnisse resultieren werden, scheint keineswegs gewiss. Daher ist ja der durch klinische Evidenz begründete Einsatz von Eingriffen, Diagnose- und Behandlungsverfahren von so herausgehobener Bedeutung: Man möchte hier eben jene Sicherheit gewinnen, die in der bevölkerungsweiten Analyse kaum mehr zu erlangen und besonders schwer auf die Nutzung oder Nicht-Nutzung einzelner Verfahren zu beziehen ist. Ohne dies hier im Einzelnen darstellen und begründen zu können: Die oft fehlende Sicherheit des Nutzennachweises ist ein wesentlicher Aspekt bei der Charakterisierung bestimmter Eingriffe als potenziell problematisch oder fraglich. Die Berufung auf die „Evidenzbasierung“ der Versorgung sollte sich jedenfalls nicht darin erschöpfen, den Status quo zu verteidigen. Sie sollte vielmehr als eine fortlaufend notwendige Aufklärungsarbeit begriffen werden.

Effektivität und Effizienz in der Versorgung nach der Pandemie

International, stärker vielleicht als aktuell hierzulande, wird so die Frage wieder aufgeworfen, ob die Bestandsaufnahmen nach der Pandemie nicht auch die Möglichkeit bilden, erneut die – ja hartnäckige – Problematik fraglicher Leistungen zu thematisieren. So sehen, wie einleitend erwähnt, Moynihan et al. (2020) die Chance, „unnötige Versorgung“ zu reduzieren. Es gehen u. a. auch der Bericht einer kanadischen Organisation zur Gesundheitstechnologiebewertung (CADTH, 2021) und Sorenson et al. (2020) von der Voraussetzung aus, dass sowohl in als auch in Folge der Pandemie von einer Knappheit von Behandlungsressourcen auszugehen sei, was eine Reduktion von „Low-value tests, treatments, and procedures“, die wenig Nutzen haben oder gar Schaden verursachen, in besonderem Maße notwendig mache. Von Elshaug und Duckett (2020) wird ferner postuliert: „Hospitals have stopped unnecessary elective surgeries – and shouldn’t restart them after the pandemic“.

Auch wenn dieses Postulat, insbesondere unnötige Eingriffe seien „gestoppt“ worden, für Deutschland und nach den hier gesehenen Ergebnissen nicht überzeugend empirisch belegt ist, müssen Fragen nach Effektivität und Effizienz zu Recht wieder zunehmend gestellt werden. Dies gilt auch für das deutsche Gesundheitssystem, das ja gegenüber vielen anderen vergleichsweise viele Strukturen und Ressourcen bereithält. Nicht nur aufgrund der Pandemie haben sich die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen insbesondere in Bezug auf das verfügbare qualifizierte Personal (besonders in der Pflege) in wenigen Jahren auch in Deutschland erheblich verschlechtert. Die Wahrnehmungen in der gesundheitspolitischen Debatte sind ja teilweise dramatisch. Zwar sind, gerade auch im Krankenhausbereich, erhebliche Reformen in der Diskussion, mit denen vor allem im Bereich des Vergütungssystems und der Strukturen auch der Überversorgung im Sinne der „Mengenausweitung“ entgegengewirkt werden soll. Abgesehen von der Frage, ob und in welchem Maße solche Reformen realisiert werden können, ist allerdings auch daran zu erinnern, dass in Betrachtung internationaler Analysen bei teilweise sehr viel begrenzteren Kapazitäten und auch anderen Finanzierungs- und Vergütungssystemen ganz ähnliche Problematiken wie hierzulande gesehen werden. Es handelt sich demnach nicht nur um eine ökonomisch geprägte Steuerungsaufgabe, sondern auch um eine Aufgabe der Medizin selbst, die sich evidenzbasiert nennen und gerade von der „Ökonomie“ unabhängiger werden will. Die Mühe, möglichst viele Eingriffe, Behandlungen und Diagnostik auf ihren Nutzen und ihre angemessene Anwendung hin weiterhin zu hinterfragen, kann man sich dabei nicht ersparen. Dazu sind auch mehr hochwertige, versorgungsnahe klinische Vergleichsstudien erforderlich und eine Versorgungsforschung, die auch bereits mitunter lange Etabliertes wie „Innovatives“ kritisch hinterfragt. Beides ist sowohl nötig (Dreger et al., 2021) als auch möglich (Toews et al., 2021). Es erscheint wenig aussichtsreich, lediglich darauf zu vertrauen, dass bei Mittelknappheit das System schon selbst nur noch zumindest vorrangig Notwendiges, Nützliches und Wesentliches leisten werde.

Referenzen

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Tolksdorf, K. et al. (2022): Dritte Aktualisierung der „Retrospektiven Phaseneinteilung der COVID-19-Pandemie in Deutschland“. Epidemiologisches Bulletin 38, 3-6.

Über die Autoren

Dr. Nick Bertram

Dr. Nick Bertram ist Fachreferent im Referat Methodenbewertung der Abteilung Medizin beim GKV-Spitzenverband.

Seine Schwerpunktthemen sind die Erprobungsregeln beim Gemeinsamen Bundesausschuss, Hochrisikomedizinprodukte im Krankenhaus und die Bewertung (neuer) Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden.

Dr. Philipp Storz-Pfennig

Dr. Philipp Stortz-Pfennig, der Autor des Artikels

Dr. Storz-Pfennig ist Fachreferent im Referat Methodenbewertung der Abteilung Medizin beim GKV-Spitzenverband.

Dort beschäftigt er sich mit den Themen Versorgungsepidemiologie, Health Technology Assessment, Einsatz von KI, Analyse von Forschungsprozessen im Bereich Biomedizin und versorgungsnaher Forschung.

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