AMNOG

Arzneimittelinnovationen und -qualität dank AMNOG

Februar 2023

Deutschland ist ein für die Anbieter patentgeschützter Arzneimittel ausgesprochen attraktiver Markt, wie eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) im Arzneimittel-Kompass 2022 zeigt. Demnach erhöhten sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für patentgeschützte Arzneimittel zwischen 2011, dem Jahr des Inkrafttretens des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG), und 2021 von 13,4 Milliarden Euro auf 26,4 Milliarden Euro (+97 Prozent). Zum Vergleich: Die Wirtschaftskraft Deutschlands, gemessen mithilfe des Bruttoinlandsprodukts in jeweiligen Preisen, stieg im selben Zeitraum gerade einmal um knapp 34 Prozent.

Pharmafreundliche Rahmenbedingungen in Deutschland

Patentgeschützte Arzneimittel können in Deutschland sofort nach der Zulassung zu Lasten der GKV verordnet werden und stehen den Patientinnen und Patienten somit schnell zur Verfügung. In anderen Ländern dauert die Markteinführung regelmäßig länger, da ein Arzneimittel dort erst nach Vereinbarung eines Preises für ausgewählte Patientengruppen vertrieben werden darf. Dieses Vorgehen ist auch als „4. Hürde“ bekannt.

Hierzulande bestimmt das Pharmaunternehmen, wann und zu welchem Preis ein Produkt auf den Markt kommt. Diese Regelung sorgt zum einen für eine zuverlässige Versorgung mit neuen Arzneimitteln in Deutschland. Sie begünstigt allerdings auch die hohen Ausgaben, da der vom Unternehmen selbst festgesetzte Preis sechs Monate lang von allen Krankenkassen bezahlt werden muss. Erst danach greift der mit dem GKV-Spitzenverband vereinbarte AMNOG-Erstattungsbetrag. Die Geltung des Wunschpreises ab Inverkehrbringen stärkt auch die Verhandlungsmacht der Unternehmen in den Erstattungsbetragsverhandlungen und begünstigt zudem über die internationale Preisreferenzierung hohe Preise für Arzneimittel in der ganzen Welt.

AMNOG als Innovationsbremse?

Trotz dieser günstigen Ausgangslage kritisiert die Pharmaindustrie das AMNOG-Verfahren vehement als innovationsfeindlich. Dabei schwingt oft der Vorwurf mit, dass Patientinnen und Patienten besonders werthaltige Therapien durch die Regulierung vorenthalten werden. Dem ist mitnichten so, wie ein Blick auf die Fakten zeigt. Mit Stand vom 1. Januar 2023 hat der GKV-Spitzenverband 445 Arzneimittel erfasst, die seit 2011 neu eingeführt wurden bzw. als Bestandsmarktprodukte das AMNOG-Verfahren durchlaufen haben. Einige dieser Arzneimittel wurden aufgrund geringfügiger Umsätze von der Nutzenbewertung freigestellt, sodass die Unternehmen ihren Wunschpreis ohne Preisverhandlung selbst festlegen konnten. Manche Arzneimittel befinden sich aktuell noch in der Nutzenbewertungsphase. Für die übrigen 389 Arzneimittel liegt zum Stichtag ein Beschluss zur Nutzenbewertung seitens des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vor.

Deutschland ist europäischer Spitzenreiter bei der Verfügbarkeit neuer Arzneimittel

Im europäischen Vergleich hat Deutschland bei der Quote verfügbarer Arzneimittel den Spitzenplatz inne. So zeigt eine Analyse des europäischen Pharmaverbands (EFPIA), dass in Deutschland zum 1. Januar 2022 92 Prozent aller zwischen 2017 und 2020 europaweit zugelassener Arzneimittel verfügbar waren. Auf den Plätzen 2 und 3 folgen Dänemark (81 Prozent) sowie Österreich und Italien (jeweils 79 Prozent). England und Frankreich liegen mit 68 bzw. 66 Prozent weit dahinter.

Jedes zehnte AMNOG-Arzneimittel wurde vom Markt genommen

In Deutschland sind heute insgesamt 47 AMNOG-Arzneimittel nicht mehr regulär auf dem Markt erhältlich. Somit haben pharmazeutische Unternehmen gut jedes zehnte dieser Arzneimittel wieder vom deutschen Markt genommen. Die Gründe für diese Marktrücknahmen sind vielschichtig.

Medizinischer Fortschritt führt teilweise zum Rückzug älterer Substanzen

In manchen Therapiegebieten schreitet der medizinische Fortschritt besonders rasch voran, sodass eine vor Kurzem noch als Innovation beworbene Therapie bereits wenige Jahre später von neuen, wirksameren Arzneimitteln abgelöst wird. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Therapiegebiet Hepatitis C: Sechs der Neueinführungen sind nicht mehr verfügbar und wiesen vor dem jeweiligen Marktrückzug auch deutliche Umsatzrückgänge in kurzer Zeit auf, wie die untenstehende Abbildung in Bezug auf diese sechs Arzneimittel zeigt. Doch sicher ist: Diese Marktrücknahmen haben keine negativen Auswirkungen auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten, da modernere Arzneimitteln an ihre Stelle traten.

Das Diagramm zeigt die Entwicklung des monatlichen Umsatzes von Arzneimitteln in den Jahren 2013 bis 2018, vor deren Marktrückzug. Betrachtet werden die Wirkstoffe Boceprevir (Victrelis), Daclatasvir (Daklinza), Dasabuvir (Exviera), Ombitasavir / Paritaprevir / Ritonavir (Viekirax), Simeprevir (Olysio) und Telaprevir (Incivo).

Viele vom Markt genommene Produkte weisen keine Zulassung mehr auf

Auffällig ist zudem, dass 18 dieser 47 AMNOG-Arzneimittel in Deutschland gar nicht mehr angeboten werden dürfen, da keine Zulassung mehr vorliegt. Eine Zulassungsrücknahme kann dem Schutz der Patientinnen und Patienten dienen, z. B. wenn sich herausstellt, dass die Arzneimittel doch ein negatives Nutzen-Risiko-Profil aufzeigen (z. B. im Fall von Ingenolmebutat und Olaratumab). Regelmäßig wurden die Zulassungen jedoch auch auf Anfrage der pharmazeutischen Unternehmen zurückgenommen. Als Begründung werden dabei oft „kommerzielle Gründe“ genannt. Im Fall des Wirkstoffs Telaprevir im Therapiegebiet der Hepatitis C wurde sogar explizit auf die schnelle Reduktion des Einsatzes aufgrund der Einführung neuer Arzneimittel verwiesen. Teilweise - wie im Fall Alipogentiparvovec - wird auch allgemein ein Mangel an Nachfrage festgestellt. Mit der Zulassungsrücknahme sind diese Produkte in ganz Europa nicht mehr erhältlich. Es besteht also auch bei diesen Marktrücknahmen kein Bezug zum deutschen AMNOG.

Nur wenige vom Markt genommene Arzneimittel haben einen Zusatznutzen

Von den 29 AMNOG-Arzneimitteln, die den deutschen Markt verlassen haben und noch eine Zulassung aufweisen, bekamen nur sieben Arzneimittel einen Zusatznutzen durch den G-BA zugesprochen. Grundsätzlich ergeben sich für diese Arzneimittel aufgrund des Zusatznutzens in Deutschland gute Bedingungen, um angemessene Preise zu verhandeln. Die Gründe, warum diese Produkte aus dem Markt genommen werden, bleiben für uns oft im Unklaren.

Marktrückzug trotz beträchtlichen Zusatznutzens

Es fällt auf, dass zwei dieser Arzneimittel Hepatitis C-Arzneimittel sind (Dasabuvir und Ombitasvir/Paritaprevir/Ritonavir). Beide Produkte weisen einen teilweise beträchtlichen Zusatznutzen und einvernehmlich vereinbarte Erstattungsbeträge auf, sodass ein Marktaustritt aufgrund des erzielten Preises unwahrscheinlich ist. Entsprechend können hier auch Wettbewerbsgründe eine Rolle spielen. Ebenfalls einen teilweise beträchtlichen Zusatznutzen weist das COVID-Arzneimittel Casirivimab/ Imdevimab auf. Durch die rasche Mutation des Corona-Virus wirkt dieser Antikörper allerdings nicht mehr ausreichend gegen die derzeit im Umlauf befindlichen Corona-Varianten, was den Marktaustritt nachvollziehbar macht und keine negativen Folgen für Patientinnen und Patienten hervorruft. Überraschend ist hingegen der Marktrückzug des Grippe-Arzneimittels Baloxavir marboxil zu Beginn des Verhandlungsprozesses (sog. Opt-Out), da für dieses Arzneimittel vor dem Hintergrund des teilweise beträchtlichen Zusatznutzens aus unserer Sicht gute Bedingungen zur Verhandlung eines Erstattungsbetrages vorlagen. Das Arzneimittel Cenegermin verließ den Markt trotz eines durch den G-BA als nicht quantifizierbar eingestuften Zusatznutzens und eines einvernehmlich geeinten Preises, sodass ein Marktaustritt aufgrund des erzielten Preises auch unwahrscheinlich ist.

Mehrere Arzneimittel in ihren Blistern

Keine Nachteile für Patientinnen und Patienten bei anderen Marktrücknahmen

Bei dem Wirkstoff Ataluren mit einem geringen Zusatznutzen ist dem Schiedsspruch aus dem Jahr 2016 zu entnehmen, dass betroffene Patientinnen und Patienten durch Einzelimporte aus dem europäischen Ausland versorgt werden können. Bei dem siebten der o. g. Arzneimittel handelt es sich um liposomales Amikacin, welches aufgrund seines Orphan-Status einen rein fiktiven nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen zugesprochen bekommen hat, obwohl das Arzneimittel nach den Feststellungen des G-BA keinen Vorteil für die Versorgung belegen konnte und bei den Nebenwirkungen einen negativen Effekt aufzeigte. Der Wirkstoff selbst war zudem bereits lange vor Einführung dieser neuen „liposomalen“ Darreichungsform auf dem Markt und steht somit weiterhin für Patientinnen und Patienten zur Verfügung. Auch hier hat das AMNOG also keine Innovationen ausgebremst.

Bei allen übrigen 22 AMNOG-Arzneimitteln, die den deutschen Markt verlassen haben und noch eine Zulassung aufweisen, konnte der G-BA keinen Zusatznutzen feststellen. Somit stehen für Patientinnen und Patienten zweckmäßige Behandlungsalternativen zur Verfügung, die eine medizinische Versorgung auf hohem Niveau ermöglichen.

Das AMNOG hat also bewiesen, dass es funktioniert und die Versorgung mit innovativen und qualifizierten Arzneimitteln sichert. (der)

Eine kürzere Fassung dieses Artikels wurde am 25. Januar 2023 im Tagesspiegel Background veröffentlicht. Dort wurde die Information aufgeführt, dass fünf Hepatitis C-Arzneimittel aus dem AMNOG-Markt nicht mehr verfügbar sind. Tatsächlich sind es jedoch sechs Arzneimittel. Zudem fehlte in der Auflistung bislang der Wirkstoff Cenegermin. Wir haben die entsprechenden Stellen korrigiert.

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