Die oben geschilderte generelle Nichtrepräsentativität eines Bereinigungszeitraums von lediglich einem Jahr nach Einführung eines Fördertatbestands wird durch die Strategieanfälligkeit der nach ärztlichem Ermessen vorzunehmenden Kennzeichnung noch massiv verschärft. Es entsteht ein starker Anreiz, die geförderten Leistungen zunächst zurückhaltend zu kennzeichnen und extrabudgetär abzurechnen, insbesondere wenn die individuelle Auszahlungsquote bereits in der Nähe von 100 Prozent liegt. Hinzu kommen derzeit noch nicht im Einzelnen absehbare bereinigungsmindernde Effekte aufgrund der Corona-Pandemie. Hierzu zählt neben dem allgemeinen Inanspruchnahmerückgang auch der Vorrang der Kennzeichnung und Vergütung von Leistungen bei klinischem Verdacht auf eine Infektion oder bei einer nachgewiesenen Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 als sogenannter nicht vorhersehbarer Anstieg des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs gemäß § 87a Abs. 3 Satz 4 SGB V.
Strategieanfälligkeit der Leistungskennzeichnung
Sowohl die extrabudgetäre Vergütung als auch die im ersten Jahr vorgesehene Bereinigung setzt eine Kennzeichnung der betreffenden Leistungen durch die bzw. den Leistungserbringenden oder die Kassenärztliche Vereinigung im Rahmen der Abrechnung voraus. Die Strategie, im Bereinigungsjahr zurückhaltend zu kennzeichnen und die Kennzeichnung anschließend zügig hochzufahren, führt daher mittelfristig zu einer Gewinnmaximierung und konterkariert Sinn und Zweck der gesetzlichen Bereinigungsregelung.
Es lassen sich diverse Aufrufe finden, eine derartige Strategie zu verfolgen; hinsichtlich der Zurückhaltung bei der Kennzeichnung rät beispielsweise der Vorsitzende der KV Mecklenburg-Vorpommern:
„Auch bei der Vergütung der neuen Leistungen und Zuschläge sei einiges zu beachten, so Rambow. Diese erfolgen zwar grundsätzlich extrabudgetär, aber bis auf die Zuschläge […] sind […] zwingende Bereinigungen der Gesamtvergütung durch das Gesetz vorgesehen. Eine komplizierte Rechtsvorschrift sorge dafür, dass es dabei auch zu Honorarminderungen bei Ärzten und Psychotherapeuten kommen könne, so der Vorsitzende. Im Rundschreiben 5/2019 wurde bereits darüber informiert und weitere Informationsquellen sowie Ansprechpartner wurden benannt. Bei […] können sich Ärzte und Psychotherapeuten beraten lassen, ob eine entsprechende Kennzeichnung in der Abrechnung sinnvoll ist. […] Deshalb empfahl der Vorsitzende, sich in Ruhe nach und nach mit den neuen Regelungen, insbesondere zur Praxisorganisation und zur Vergütung, vertraut zu machen. Der Vorstand sei entschlossen, so Rambow, die Regelungen mit Augenmaß und unter Nutzung aller Spielräume umzusetzen.“ (KV Mecklenburg-Vorpommern 2019: 4-6)
Hinsichtlich des zügigen Hochfahrens der Kennzeichnung nach dem Ende des Bereinigungszeitraums rät beispielsweise die KV Westfalen-Lippe:
„Am 31. August 2020 endet der im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vorgesehene Bereinigungszeitraum für die offene Sprechstunde. Deshalb ist im September 2020 eine besondere Kennzeichnung der erbrachten Leistungen in der offenen Sprechstunde notwendig. […] Mit dieser Kennzeichnung wird sichergestellt, dass die extrabudgetäre Vergütung der Leistungen im Zusammenhang mit einer offenen Sprechstunde, die ab dem 1. September 2020 erbracht wird, nicht mehr zur Bereinigung herangezogen wird.“ (KV Westfalen-Lippe 2020: 39)
Der Bereinigungszeitraum endete für die beiden TSVG-Konstellationen mit dem größten Leistungsvolumen am 31. August 2020 und es liegen bislang Abrechnungsdaten bis einschließlich März 2020 vor, die eine massive Unterbereinigung belegen. Wie der Abbildung 2 zu entnehmen ist, beträgt der Anteil der als TSVG-Konstellation gekennzeichneten Leistungen an der Gesamtleistungsmenge im Halbjahr von September 2019 bis März 2020 in den einzelnen KV-Bezirken zwischen 0,3 und 9,8 Prozent und weist damit eine erhebliche Spreizung auf. Während der Kennzeichnungsanteil bei den vier obersten KV-Bezirken im Durchschnitt immerhin 9,3 Prozent beträgt, liegt der Durchschnitt bei den untersten vier KV-Bezirken lediglich bei 1,5 Prozent. Dies lässt auf eine bewusste Nicht- bzw. Unterkennzeichnung in der Mehrheit aller KV-Bezirke schließen.