Interview

„Die gute Versorgung der Patientinnen und Patienten muss im Mittelpunkt stehen“

August 2019

Seit knapp zwei Monaten ist Stefanie Stoff-Ahnis Vorstand beim GKV-Spitzenverband. Sie ist die Nachfolgerin von Johann-Magnus v. Stackelberg, der in den Ruhestand gegangen ist. Anlässlich ihres Amtsantritts haben wir mit Frau Stoff-Ahnis gesprochen. Im Interview äußert sie sich zu notwendigen Weiterentwicklungen in der Patientenversorgung und zu den aktuellen Plänen der Politik zur Struktur der Selbstverwaltung – und gibt Einblicke, wie sie Familie und Beruf zusammenbringt.

Frau Stoff-Ahnis, Sie haben zum 1. Juli neben der Abteilung Arznei- und Heilmittel auch die Bereiche ambulante und stationäre Versorgung im GKV-Spitzenverband übernommen. Wo möchten Sie in diesem Gebiet in den kommenden sechs Jahren Ihre Schwerpunkte setzen? Was liegt Ihnen besonders am Herzen?

Ganz klar ist, dass wir zur Sicherung der künftigen Versorgung zunehmend darauf schauen müssen, dass wir die vorhandenen Ressourcen noch zielgenauer und bedarfsgerechter einsetzen: Wir brauchen patientenfreundliche, nachhaltige und wirtschaftliche Strukturen - der Fokus muss auf der guten Versorgung der gesetzlich Versicherten liegen. Dazu gehört die sinnvolle Verzahnung der bestehenden Sektoren, um patientenorientierte Behandlungspfade zu etablieren. Gleichzeitig müssen wir innovative Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, nutzen und in die Versorgung integrieren. Insbesondere denke ich da an digitale Möglichkeiten. Dies alles dient dazu, die Versorgungsqualität zum Schutz der Patientinnen und Patienten zu sichern und auszubauen.

Aktuell werden die verschiedensten Versorgungsbereiche von einer Vielzahl gesetzlicher Reformen berührt. Ein systematischer Ansatz im Sinne von übergreifenden Strukturreformen ist jedoch nicht erkennbar. Es fehlt eine klare Stoßrichtung – und die müsste die gute Versorgung der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellen.

Sie haben die sektorenübergreifende Versorgung bereits angesprochen. Wie könnte diese Ihrer Vorstellung nach aussehen – und was ist notwendig für die Umsetzung?

Im Moment sieht das SGB V eine rein sektorale Versorgung vor, also ein Nebeneinander der Leistungserbringung. Dieses nicht abgestimmte Nebeneinander von ambulanter und stationärer Patientenversorgung ist weder patientenorientiert noch effizient. Aber genau daran, an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten, müssen wir uns orientieren. Denen ist es nämlich völlig egal, in welchem Sektor nach der Systematik des SGB V sie sich gerade befinden, sondern sie erwarten zu Recht bedarfsgerechte und vor allem abgestimmte Behandlungsabläufe.

Wie sollten bedarfsgerechte und abgestimmt Versorgungsabläufe aussehen?

Es geht dabei konkret um drei Aspekte: Erstens um transparente Zugänge in die jeweils geeignete und auch bedarfsgerechte Versorgungsebene. Das heißt beispielsweise, eine Behandlung im Krankenhaus sollte nur dann erfolgen, wenn sie auch medizinisch notwendig ist. Zweiter Aspekt ist die qualitätsgesicherte Diagnostik, die ganz entscheidend ist für die weitere Prozesskette – auch mit Blick auf die entstehenden Kosten. So sollten zum Beispiel bei der Diagnosestellung nur Methoden verwendet werden, die auch im konkreten Einzelfall einen Erkenntnisgewinn versprechen. Der dritte Aspekt schließlich beinhaltet gute Abstimmung und enge Zusammenarbeit der medizinischen Leistungserbringenden – womit wir wieder beim Thema sektorenübergreifende Versorgung sind.

Patientinnen und Patienten ist es völlig egal, in welchem Sektor sie sich befinden - sie erwarten zu Recht bedarfsgerechte und vor allem abgestimmte Behandlungsabläufe.

Und die enge Zusammenarbeit über Sektorengrenzen hinweg kann so einfach gelingen…?

„Einfach so“ sicher nicht. Aber gemeinsam können wir das hinbekommen. Voraussetzung für gute Versorgungsabläufe ist allerdings, dass wir einen einheitlichen Ordnungsrahmen schaffen: Dabei müssen die Versorgungsfunktionen klar zugeordnet und die Versorgungsaufträge klar definiert sein – denken Sie etwa an Fragen von Sicherstellungspflichten.

Darüber hinaus müssen wir bei der Bedarfsplanung die Sektoren miteinander verzahnen, indem beispielsweise bei der Krankenhausplanung durch die Länder auch die Bedarfsplanung des niedergelassenen Bereichs mitberücksichtigt wird. Konkret geht es darum, dass beispielsweise auch mal kleine Kliniken in medizinische Versorgungszentren umgewandelt werden können – und zwar ausgerichtet am Bedarf der dort lebenden Menschen.

Welchen Vorteil bieten solche „verzahnten“ Einrichtungen?

Sie vermeiden Doppelstrukturen und damit ein ungesteuertes Nebeneinander von inhaltsgleichen Versorgungsangeboten. Denn dies hilft weder der Versorgung noch den Versicherten weiter, es verstärkt vielmehr Allokationsprobleme und führt letztlich zu Doppelfinanzierungen. Ein Beispiel hierfür sind Mehrfachuntersuchungen, wenn z. B. eine Röntgenuntersuchung erst vom Facharzt und drei Tage später im Krankenhaus noch einmal gemacht wird.

Was verhindert bisher den konsequenten Ausbau der sektorenübergreifenden Versorgung?

Am wichtigsten ist – neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen – der Wille der Akteure, zusammenzuarbeiten, statt dass jeder Sektor nur auf sich schaut. Ein großes Problem ist der hohe Arbeits- und Zeitaufwand, der entsteht, wenn sich die medizinischen Leistungserbringenden hinreichend abstimmen und Informationen austauschen. Eine Lösung hierfür sind digitale Anwendungen. Auf diesem Wege können sich ganz unkompliziert alle Akteure im Gesundheitswesen vernetzen. Es gibt bereits digitale Informationsplattformen, die ohne größeren administrativen Aufwand wechselseitige Information und Austausch zu gemeinsam behandelten Patientinnen und Patienten ermöglichen.

Stefanie Stoff-Ahnis in ihrem Büro

Die Betreuung von Schwangeren findet heute schon in verschiedenen Versorgungsbereichen statt – im Krankenhaus wie auch ambulant durch Hebammen. Seit Jahren gibt es viele Klagen von Schwangeren und jungen Müttern, dass sie keine Hebamme finden. Was muss sich in diesem Bereich tun?

Wichtig für die Lösung dieser Herausforderung ist Transparenz über Hebammen, die Leistungen für GKV-Versicherte erbringen. Bisher war es Krankenkassen gesetzlich nicht möglich, Informationen über alle Hebammen zur Verfügung zu stellen. Seit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz, das im Mai in Kraft getreten ist, gibt es diese Möglichkeit. Der GKV-Spitzenverband hat nun Informationen über alle Hebammen erstellt und im Internet veröffentlicht.

Seit Ende Juni können schwangere Frauen und Wöchnerinnen dort Hebammen in ihrer Region finden: Kontaktdaten und das jeweilige Leistungsangebot der Hebammen. Damit besteht erstmals eine vollständige, bundesweite Auflistung von Hebammen. Das erleichtert die Suche für die schwangeren Frauen und ist ein erster Schritt dabei, die Versorgungssituation im Bereich Hebammen zu verbessern.

Sie kennen die Arbeit in einer selbstverwalteten Institution ja schon aus Ihrer Tätigkeit bei der AOK Nordost. Der Bundesgesundheitsminister hat im Moment mit der sozialen Selbstverwaltung einiges vor – wie stehen Sie zu seinen Plänen?

Die Stärke des deutschen Gesundheitssystems resultiert aus Beteiligung der Betroffenen im Sozialstaat. In Deutschland können diejenigen mitbestimmen, die die Beiträge finanzieren und auch diejenigen, die Leistungen in Anspruch nehmen – die Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitgeber- und Versichertenseite. Erreicht wird dadurch, dass wir interessengerechte Lösungen finden und dass dieses gesamte System verlässlich ist und für Kontinuität steht.

Um als soziale Selbstverwaltung handlungsfähig zu sein, ist es unerlässlich, dass es einen klaren und starken Rückhalt aus der Politik gibt. Der Gesetzgeber muss uneingeschränkt zum ordnungspolitischen Instrument der sozialen Selbstverwaltung stehen. Gleichzeitig brauchen wir als Partner der Selbstverwaltung Gestaltungs- und Entscheidungsautonomie, um lösungsorientierte Vorschläge machen und das Gesundheitswesen im Sinne der gesetzlich Versicherten weiterentwickeln zu können.

Der starke Rückhalt aus der Politik teilt sich uns momentan nicht so deutlich mit – im Gegenteil. Wir werden daher als GKV-Spitzenverband am 26. September eine Sonder-Mitgliederversammlung zu diesem Thema durchführen. Wir hoffen sehr, dass der Bundesgesundheitsminister sich vor Ort unseren Argumenten gegenüber aufgeschlossen zeigt.

Zum Schluss würden wir gerne noch ein paar Fragen zu Ihrer Person stellen. Sie sind zweifache Mutter und haben einen herausfordernden Job. Wie bringen Sie Beruf und Familie unter einen Hut?

Hier ist in der Tat unser ganzes Organisationstalent gefragt: Mein Mann ist ebenso wie ich auch voll berufstätig. Wir haben das Glück, dass wir durch ein sehr enges und stabiles familiäres Netz unterstützt werden. Das heißt, zwei Großelternpaare und eine „dritte Oma“ betreuen unsere Kinder an den Nachmittagen und bei Bedarf auch abends.

Unsere Kinder sind mit fünf und elf Jahren noch recht klein. Natürlich ist mir meine Familie sehr wichtig und ich genieße die gemeinsamen Familienzeiten. Daher haben wir an Abenden ohne Termine feste Familienrituale und nutzen insbesondere die Wochenenden für gemeinsame Unternehmungen und sportliche Freizeitaktivitäten.

Mich persönlich unterstützt bei der Vereinbarung von Familie und Beruf die digitale Weiterentwicklung: Ich bin dadurch nicht nur arbeitstechnisch flexibler, indem ich beispielsweise abends bereits Themen für den nächsten Tag vorbereiten kann, sondern ich kann auch viele Dinge des Alltags online erledigen: Einkäufe finden bei mir fast zu 100 Prozent online statt, sogar viele Lebensmitteleinkäufe. Dadurch gewinne ich Zeit, die ich mit meiner Familie nutzen kann. Zudem habe ich mich vor einigen Jahren entschieden, komplett auf Fernsehen zu verzichten – auch das spart enorm Zeit.

Solange wir Führungspositionen in Deutschland nicht auch in Teilzeit besetzen, wird sich an der aktuellen Situation nicht viel ändern.

Mit Ihnen ist der Frauenanteil im Vorstand des GKV-Spitzenverbandes auf zwei Drittel angewachsen – eine absolute Ausnahme, auch im Gesundheitswesen. Wie kann es künftig gelingen, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen?

Zunächst einmal glaube ich, dass sich in den letzten zehn bis 15 Jahren schon einiges verändert hat: Frauen sind insbesondere als Expertinnen und bis zu einer bestimmten Führungsebene präsent und wahrnehmbar. Allerdings ist es tatsächlich so, dass in der oberen Führungsebene, auch im Gesundheitswesen, noch klar männliche Vertreter dominieren.

In Deutschland sind Führungsaufgaben ganz klar mit Vollzeittätigkeit verknüpft. Insbesondere in bestimmten Familienphasen entscheiden sich Frauen aber häufig gegen eine Tätigkeit in Vollzeit – und damit faktisch auch gegen Führungsaufgaben. Der Wunsch nach flexiblen Arbeitszeitmodellen und reduzierter Arbeitszeit ist also eine Ursache dafür, dass Frauen in den oberen Führungsebenen seltener zu finden sind als Männer – so ungerecht das auch ist!

Das ist im Ausland durchaus anders: Seit vielen Jahren können in Skandinavien Führungsrollen gemeinsam und in Teilzeit ausgefüllt werden. Dort teilen sich also mehrere Leitungspersonen eine Führungsaufgabe. Ich glaube, dass wir genau diese Diskussion auch in Deutschland führen müssen – nicht allein um Frauen, sondern auch um insgesamt Berufseinsteigende für Führungsaufgaben zu gewinnen. Solange wir Führungspositionen in Deutschland wohl leider nicht auch in Teilzeit besetzen, wird sich an der aktuellen Situation nicht viel ändern.

Frau Stoff-Ahnis, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Stefanie Stoff-Ahnis

Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes

Die Juristin ist seit 15 Jahren im Gesundheitswesen tätig. Nach Tätigkeit im Bereich der außerklinischen Intensivpflege war sie gut 12 Jahre bei der heutigen AOK Nordost beschäftigt, seit 2016 als Mitglied der Geschäfts­lei­tung im Ressort Versor­gung.

Seit dem 1. Juli 2019 ist sie Vorstand beim GKV-Spitzenverband. Dort verantwortet sie die Abteilungen Ambulante Versorgung, Krankenhäuser und Arznei- und Heilmittel sowie den Stabsbereich Vertragsanalyse.

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